Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Meno geschenkt hatte. In der vergangenen Woche war er kaum dazu gekommen, darin zu lesen: zwar hatte sich in Waldbrunn vorweihnachtliche Stimmung bemerkbar gemacht, der Unterricht wurde nicht mehr so straff wie sonst geführt, aber die Vorbereitungen auf die Geburtstagsfeier und die täglich unternommenen Busfahrten nach Hause, um mit den anderen das italienische Stück üben zu können, hatten Zeit gekostet. Christian wollte das Buch gründlicher in den Weihnachtsferien lesen. Es war ein ziemlich dickes, auf faseriges Papier gedrucktes und in grobes Leinen gebundenes Werk; das Umschlagbildnis kannte er aus einer Faksimile-Ausgabe der Manessischen Handschrift, die er in der Bibliothek seines Onkels, aber auch bei Tietzes gesehen hatte, dort in einem besonders schönen und wohlerhaltenen Exemplar; Niklas, Ezzos und Reglindes Vater, las oft darin. Das Bildnis zeigte die Sagengestalt des Tannhäuser, einen rotlockigen Mann im blauen Gewand mit weißem Überwurf, ein schwarzes Kreuz auf der Brust, das schwarzgelb geteilte Wappen neben einem Flügelhelm über stilisierten Rankenpflanzen; die Linke hatte der »Tanhuser«, wie sein Name über der Tafel geschrieben stand, abwehrend oder vielleicht auch vorsichtig grüßend erhoben; die Rechte schürzte den Überwurf. Christian öffnete den Band. »Alte deutsche Dichtungen, in Auswahl herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Meno Rohde«, las er, dann schlug er die Sage wieder auf, in der er auf der Fahrt von Waldbrunn nach Dresden schon gelesen hatte. Die über ihm an der Wagendecke angebrachteLampe begann zu raspeln, die aufgeschlagene Seite bekam ein körniges, fahles Aussehen, und im sachten Vibrieren der Fahrt verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Er fand keine Konzentration für die Geschichte des Goldsporenritters, der mit zweiundsiebzig Schiffen ausgezogen war, um Königin Bride zu freien. Die Lampe erlosch. Er steckte das Buch in die Tasche zurück und tastete dabei nach dem Barometer, ein Geschenk für den Vater, das er aus dem ehemaligen Vereinshaus der Elbeschiffer abgeholt hatte. Wohlverpackt und gepolstert lag es im Ballen gebrauchter Wäsche, der seine Tasche füllte.
    Die Bahn erreichte, im langsamen, aber steten Aufwärtssteigen hin und wieder von Unebenheiten in den Rollenwechseln ruckend erschüttert, die Höhe des neben der Fahrtstrecke laufenden Buchensteigs und ging eine Weile, wenige Meter über dem Boden, zum Weg parallel. Man konnte in erhellte Fenster sehen; eine ausgestreckte Hand hätte den Wagen ohne große Mühe berühren können. Oben, neben dem zweiten Tunnel der Standseilbahn, kam das schon vor mehreren Jahren geschlossene Restaurant Sibyllenhof in Sicht, dessen Terrassen wie von Riesenkindern vergessene Schul-Schiefertafeln vorragten; die Bahn würde darauf zufahren und erst kurz vor der untersten Terrasse in die Tunneleinfahrt zur Bergstation schwenken. Auf mancher Fahrt hatte Christian von verflossenen Festen in den dunkel und abweisend liegenden Sälen geträumt, von abendlichen, gepflegt konversierenden Herren, die Stärkhemden mit Jettknöpfen trugen und Uhrenketten über Seitentaschen des Fracks; von Blumenverkäufern in Pagenuniform, mit einem nur angedeuteten Fingerschnipp an die Tische gerufen, um Damen, an denen viel Schmuck unter den Urnen der Kristallüster zündelte, eine Rose zu schenken; von Tänzen, zu denen die Kapelle, ein blasser Geiger mit Pomadehaar und einer Chrysantheme im Knopfloch, aufspielte … Über die Dächer der tieferliegenden Häuser, die zur Grundstraße hin stark abfielen, glitt der Schein des Eismonds, ließ die Firste erglänzen und gab den verschneiten Gärten pudrige Aufhellungen, die an den Grenzen, weiß erhöht hier und da von einzeln stehenden, schneebedeckten Holzstapeln oder Schuppen, mit den Schatten verschmolzen, die Sträucher und Bäume warfen.
    Christian bemerkte, daß sie sich über Vogelstroms Haus befanden, des Malers und Illustrators grauer Burg, die Meno »das Spinnwebhaus« nannte, eine Vorstellung, die für Christian, wie er nun aus dem Fenster blickte, das Gesicht nahe an der kalten Scheibe, hinter der Tagesnüchternheit aus unnahbar wirkenden Fenstern und hohen Bäumen spielte. In der aufruhenden Masse der Loschwitzhänge jenseits der Grundstraße, die nun, teilweise sichtbar, als blasses Band in der Tiefe schwang, verlor sich das Mondlicht, nadelte aus vor den Wachtürmen Ostroms, blich ab an der Brücke, über die Soldaten dem Kontrollpunkt am Oberen Plan zustrebten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher