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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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wie hatte er sich diesen Tag ausgemalt, seit Jahren, seit den »99 Luftballons« von Nena, die traditionsgemäß über jedem Regiment stiegen, wenn die Entlassungskandidaten nur noch ebensoviele Tage zu dienen hatten) lächerlich vorkam, auch anachronistisch (als ob irgend jemand sich noch dafür interessierte, als ob irgend jemand tatsächlich auf sie gewartet hätte, die jungen Männer, die heute vom Militär kamen, die geschenkten braunen Trainingsanzüge wie Trophäen schwenkend, grölend und betrunken, wenn sie über die Bahnhöfe und Kneipen herfielen, doch immer stiller, je vereinzelter sie waren, je näher sie ihren verschiedenen Orten, ihrem Zuhause kamen, wo man andere Sorgen hatte und vor ihre Geschichten, die nun schweigen mußten in einem Kern aus explosivem Verstummen, nur den Riegel eines »Na, da bist du ja« schiebenwürde); Pfannkuchen wandte sich ihm zu, tippte mit dem Daumen zu seinen Kumpanen hinüber, die auf Motorrädern erschienen waren und hin und wieder das Gas jaulen oder die Kupplung kommen ließen, so daß die Maschinen vorsprangen; Pfannkuchen sagte: »Tschüß«.
    »Tschüß«, sagte Christian.

    – Suchend: Reinheit,
    schrieb Meno,
    beschriebenes und weißes, mit Fotos bedrucktes, mit feinen und groben Strichen zu einer Zeichnung gewirktes, bestätigendes, besänftigendes, feststellendes, zwischen den Zeilen gelesenes, jubelndes, vorsichtiges, schattiges, undurchsichtiges, amtliches, widerrufendes Papier; Papier für die WAHRHEIT, den gedruckten Spiegel, NEUES DEUTSCHLAND, JUNGE WELT, PRAWDA, Zeitungen, die ins Wasser gespült werden, Fett- und Butterbrotpapier, Zigaretten bilden hefige Strudel, Eintrittskarten für Spiele von ZSKA Moskau Sparta Prag Dynamo Dresden Lokomotive Leipzig HFC Chemie, für Speedwayrennen und Schwimmhallen, Quittungen mischen sich mit Isolatorpapier; Verlautbarungen, Ukase, Bücher, Schreibblöcke trudeln auf den Propeller einer Turbine zu, in der sie zerschlappt und zerwattet werden, Papierfetzen hängen wie Moos von den Propellerschaufeln, Papierzapfen, Papierschlamm, Fasermatsch, der sich zu riesigen Seilen spult, die zerschnitten werden von den Messerharfen, die in ständiger sensender Bewegung, winkende mähende Automaten, den Papierstrudel kappen wie Metall-Teigmeister vorüberfließende Nudelkabel; Zeitungen, die ins Wasser gespült werden, da sind die Bulgen der Eimerkettenbagger, die leckenden Flansche über einem Gemüsefeld, das mit kleingehäckseltem Papier gedüngt wird, da sind die Traufen an den Archiven, die unter den Lasten von Papier in geduldige Dumpfheit sanken, der Druck sintert die Schnellhefter, gautscht Formulare, läßt Akten klamm werden, feuchte Vermählungen zwischen Druckerschwärze und Holzschliff und Säure ausrichten, Schraubflügel werden über Bausch und Bogen angespannt, Tropfen bilden sich wie Schweißperlen auf den Stirnen von Männern beim Armdrücken, schwellen, Nässeschicht wölbt sich über Nässeschicht, ein Eichstrich wird passiert, plötzlich beginnt es eine Schrägehinabzurinnen, zwei Tropfen schnappen zusammen mit der Lautstärke eines über zu schwachen Armen kollabierenden Expanders, aus eins mach zwei, eiterweiße Rinnsale suchen sich ihren Weg zu den Rohröffnungen, die auf Rohreingänge weisen, die auf Rohrausgänge weisen, Mund übergibt sich in Mund, und aus den Traufen quillt der Preßsaft, Flüssigkeit kostbar wie Blut und Sperma, aus den Papieren der Archive –

    … aber dann auf einmal …

    schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:
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