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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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    Walpurgisnachtstraum:
    schrieb Meno,
    Steigen Sie ein, sagt Arbogast, bricht einen Bleistift entzwei und klemmt einen Splitter ins Steuerruder. Das Luftschiff hebt sich, windfest, doch leicht ist es, und ich sehe die Stadt, Berlin, die Kupferinsel der Regierung. Davor, im breit gestockten Lebermeer stecken die Schiffe, gescheitert die Masten, wunschlos die Kiele, die Umrisse eines Bergs werden auf dem Eiland sichtbar, eine Aufschüttung noch tickender Uhren, dahinter kreiselt, strudelt, schluckt der Tiefenwendel, die Schneckenspirale, der nach unten gespiegelte Turm. Blauer Himmel über der Republik, Volksfestwetter. Blicke ich durch eines der Okulare der seltsamen Konstruktion – eine Art von Riesenmikroskop –, das an der Kanzel des Luftschiffs befestigt ist, kann ich Einzelheiten erkennen; es ist der 7. Oktober, Republikgeburtstag, ein Pionierchor singt das Lied der jungen Naturforscher: Die Heimat hat sich schön gemacht, und Tau blitzt ihr im Haar … die Wiese blüht, die Tanne rauscht, sie tut geheimnisvoll. Frisch das Geheimnis abgelauscht, das uns beglücken soll. Wir nähern uns. Um wahrzunehmen, daß die Straßen weitverzweigte Windungen in einer weißlichen Substanz sind, brauche ich das Mikroskop nicht, ich sehe die beiden Hemisphären im Lebermeer schwimmen; das Stückchen Tele-Bildschirm über dem Gehirn, eine Adlershofer Wetterkarte mit den Filzstift-Kreisen der Hoch- und Tiefdruckgebiete, hat das Zeltgrau der Dura mater angenommen; an der Arachnoidea, der Spinnwebhaut, klettern die undurchdringlichen, verrosteten Hecken der hundertjährigen Rosen, deren Duft den Grillgeruch der volkseigenen Bratküchen überspült. Das Neue Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei, ist in einer Sonderausgabe erschienen, aus dem Papier flattern Friedenstauben, Proklamationen von Werktätigen, winken lachende und kinderküssende Soldaten. Die Protokollstrecken, über die sich die Wagen der ausländischen Delegationen dem Zentrum mit seinen Tribünen und noch leeren Aufmarschmagistralen nähern werden, sind saubergefegt, die Häuser bis zur maximalenSichthöhe, die man aus den Staatskarossen haben kann, frisch verputzt und mit optimistischen Losungen versehen. Im Okular Nervenzellen, auratisch leuchtend von Psycho-Cocktails, tropische Pflanzen sprießen an den Ufern der Spree, der Palast der Republik durchsetzt von den lauernden, trägen Blüten fleischroter Schmarotzerblumen, andere Nervenzellen wirken ausgeschaltet, von Nähr- und Botenstoffen gemieden, bauen ab und werden in einer Art retro-embryonaler Verlorenheit im Takt der Uhren auf dem Berg eingemauert, Schicht um Schicht dickt die Kalkrinde um ihre Zellmembranen. Das Gehirn ist alt, ein greises Gehirn ist es, die feinen Blutschläuche, die es versorgen, zersplittern wie Blätterteig, wenn forschende Endoskope – nicht nur ich bin unterwegs, das System hat mißtrauische Mitarbeiter – eine Biegung verfolgen, arteriosklerotische Plaques haben sich abgelagert, lassen, Nadelöhr und Stau, nur noch einzelne rote sauerstoffschleppende Blutkörperchen passieren. Gala! Sandmännchen fliegt im Hubschrauber ein. Das Skatgericht, schraffiert von Faserrosen aufsteigender Schmerzbahnen, präsentiert einen Grand ouvert, Karl-Eduard von Schnitzler, Bootsmann des Schwarzen Kanals, dessen schiefklirrende Vampirdramenmelodie die Eingangshalle des Palasts der Republik bespielt – ein Lampenladen, der heute mit Illuminationen nicht geizt –, hat sich in einen Schiffsbohrwurm verwandelt, den Chefpropagandistenmund zu einer Grimasse aus Haß und Qual verzerrt, man sieht ihn sich eindrillen in die Kammer des Wunschbriefkastens, wo Uta Schorn und Gerd E. Schäfer Anekdötchen in den gemütlichen Kaffeeplausch flechten, dort ist seine Bleibe nicht, auch nicht bei den lustigen blauen Jungs von Klock acht, achtern Strom, die Shanties singen zu Schifferklavier und Klönsnack und Godewind, er quert Katis Eisshow und verschwindet in den Tiefen des Buchministeriums, das am Wernicke-Zentrum nistet, dem akustischen Sprachgebiet, bohrt sich in die mürbe Masse der Akten, der Logbücher. Tanze Samba mit mir! Samba, Samba die ganze Nacht. Tanze Samba mit mir! Weil die Samba uns glücklich macht, schallt es vom Alexanderplatz, die Gäste des Staatsempfangs wenden sich den kulinarischen Genüssen zu: Schinken von Schweinchen aus Wiepersdorf, die unter den dortigen Oliveneichen gefressen haben, Wildbret zwischen dekorativ gekreuzten Suhler
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