Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Keilfüßchen zu sammeln schien, die, nachdem sie die Straßenbahngleise auf dem Wiener Platz überlaufen hatten, gegen die Nordfront des Bahnhofs zielten. Zwei Kräfte; unter dem »Radeberger«-Schriftzug (der jetzt stumm war und lustlos an diesem gefiedergrauen Vormittag) kollidierten sie miteinander, bildeten eine Pufferzone des Gestrampels, des Gestikulierens und archaischen Angstglücks, einen merkwürdig beruhigend und teigig aufwallenden Ring mit stacheligen und rauh fortschießenden Wundbrüchen dort, wo zwischen den Prallkeilen, die sich von der Schubwucht sofort gegenseitig plattstumpften, Nähte platzten: sah Meno in Zeitteilen halluzinatorischer Wachheit, die mit seiner Mühe, sich im kataraktischen Taumel zu halten, nichts zu tun hatten, mit seiner Fahrkarte nicht, die als vages Versprechen, todesängstlich wie ein an der Luft zappelnder Fisch, in seinen alle Augenblicke geknufften Griff geschraubt war; die nichts zu tun hatten mit dem Gedanken, daß er nicht mehr fahren, sondern hierbleiben wollte, abenteuerlich. Ich bleibe hier. Ich will sehen. Ich will (»mit eigenen Augen«) sehen, was hier geschieht.
    Neugier? Ein bisher schweigsam gebliebenes Mutter-Gen, das am Rohdeschen Partisanen-Horizont zaghaft zu blinken begonnen hatte und wirken wollte? Segelndes, zischendes,gestauchtes, von Wut und Freude geknülltes Papier. Menschen rieselten an den Durchgängen. Plötzlich Rufe: der Zug! der Zug! Felder verzweifelt kraulender Schwimmer. Der Zug sollte gekommen sein. Wo! Wo? Der Zug! Der erwartete, von Prag; in die Freiheit. Der Zug. Freiheit! schrien manche der Tarnfarbenturbine entgegen, die gefräßig und gefährlich aufbrummte. Schlagstöcke skandierten ihr Haut ab! Haut ab! Der Zug war nicht gekommen. Sofort kippten die Menschen zurück in Wartestellungen, schmerzwach und wütend viele, kraftlos und enttäuscht noch mehr; sackten Kraxen auf die papierübersäten Bahnsteige. Der Zug kam nicht.

    Berlin hatte Dresden angerufen. Die Bezirksebene hatte die Rektoratsebene der Akademie, die Chefs der Stadtkrankenhäuser, die Spendenzentralen angerufen. Die Leitungsebene hatte die Stationsebene angerufen. Dort war die Anweisung hängengeblieben, wurde zur Kenntnis genommen und beschwiegen. Zusätzliche Blutkonserven bereitstellen: der dürre Wortlaut. In den Pausen zwischen zwei OPs lief Richard durch die Klinik, um die widerstreitenden Empfindungen unter Kontrolle zu bekommen. Er ging in den Keller, wo die Schwestern und Pfleger und Ärzte rauchten, tuschelten, Gerüchte austauschten über die Unruhen am Hauptbahnhof, die Situation in Prag. Er ging hinaus, in den Park, wo es klösterlich war und herbstlich, wo die Brunnenfiguren in merkwürdiger Anmut gefangen waren, was den Bildhauer viel Kraft gekostet haben mußte, denn diese Anmut war jenseitig, und war doch keine Lüge. Sie war nicht einmal kitschig; die Figuren schienen sich wohlzufühlen, das mochte die meiste Kraft gefordert haben. Es war die Anmut der Irren. Christian hatte geschrieben: »Was soll ich tun, wenn sie mir befehlen? Du hast uns immer zur Aufrichtigkeit erziehen wollen, aber Du selbst hast gelogen. Deine Reden über das Duckmäusertum, damals, vor der ›Felsenburg‹ (sie waren laut genug, vielleicht haben wir Jungs uns so fröhlich benommen, damit wir nicht alles hören mußten) – der Kurs bei Orré, Deine Mahnungen und Vorwürfe im Wehrlager, Du erinnerst Dich? Was soll ich tun? Die Kaserne steht in Alarmbereitschaft, wir haben Ausgangs- und Urlaubssperre, die Telefone nach draußen sind abgestellt, es gibt keineZeitungen mehr. Wenn sie mir befehlen: schlag zu – was soll ich tun? Diesen Brief gebe ich dem Koch mit in der Hoffnung, daß er Dich erreicht und daß Deine Antwort, falls Du mir eine gibst (geben kannst?), zu mir gelangt.« Richard trug den Brief bei sich. Noch nie hatte Christian ihm so geschrieben. Er vermied das Wort: Vater. Und Anne? Richard hatte ihr den Brief nicht gezeigt. Was war geschehen, was war nur geschehen mit ihm, mit ihnen? Die Zeit, die Zeit, flüsterte es aus den mit Messingkunst belaubten Zweigen. Der Wind roch nach Kohle.

    Jemand hatte einen Stein geschleudert, einen handlichen Pflasterwürfel aus schwarzweißem Granit, man hätte seinen gedämpft parabolischen Flug kommentieren können wie einen Ball, aus dem, wie der erfahrene Reporter schon beim Anlaufnehmen des Schützen, dem knappen, explosiven Schuß ahnt, das Tor des Jahres werden würde, in unzähligen Replays wieder und wieder analysiert,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher