Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
(»wie die Orgelpfeifen«, sagte Barbara) und schien den ganzen Winternotvorrat an Kerzen angezündet zu haben, Herr Griesel, mit Frau und Briefträger Glodde eben von Arbeit gekommen, schloß seinen Trabant ab, bei Tischlermeister Rabe verstummten die Sägen, der Meister wischte sich die Hände an einem Putzlappen sauber, pfiff den Lehrlingen, klaubte einen Kerzenstummel aus seiner Manchesterhose.
    Einen Moment blieben sie unschlüssig – die Ulmenleite hinunter zur Kirche, oder die Rißleite entlang Richtung Bäckerei Walther? Die Warteschlange davor flockte aus, wurde schütter, löste sich auf, die Verkäuferinnen blickten aus dem Laden, knüllten die Schürzenschöße in den Händen, »bringt Semmeln mit!« rief einer, Hände winkten, Rufe: »Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann!« Und Zahnärztin Knabe, die ihren verschüchterten Ehegatten nach vorn schob: »Ganz genau – und jede Frau!« Ulrich warf das Parteiabzeichen weg. Barbara verschob einen Termin bei Lajos Wiener, der an seinen Salon »Wegen Revolution geschlossen« schrieb. Frau von Stern, mit umgehängter Brotbüchse, stieß rüstig ihren Knotenstock auf den Boden: »Falls man mir zu nahe zu treten wünscht. Daß ich das noch erleben darf, nach Oktober Siebzehn.« Und für Richard war der Tag, dieser Oktobertag des Jahres 1989, plötzlich ernsthaft und schlicht, voller Energie, die Haarrisse im Himmel hinter den Bäumen hervorzubringen schien, er sah die Schlaglöcher, die hilflos eingeschmierten Asphaltkleckse, diese jammervoll geflickte Hülle der alten Straßen, die wie bei einer Schlangenhäutung nun aufplatzen wollte, und obwohl es schon dämmerte, wehte durch die Fissuren etwas von der betäubenden Frische, die er als Junge empfunden hatte, wenn es um einen Streich gegangen war,eine der jäh aufblitzenden Großartigkeiten, die die Norm verletzten, aber das Ich mit einem Nimbus vergoldeten aus Glück und Schlachtgesang. »Hans«, sagte er zu seinem Bruder, der von der Wolfsleite gekommen war; »Richard«, sagte der Toxikologe, und das war alles, wenn auch seit langer Zeit wieder ein Wort. Iris und Muriel lehnten die Kerzen ab, die Pfarrer Magenstock ihnen anbot, auch Fabian, der ein junger Mann geworden war mit seinem etwas lachhaften Heiduckenschnurrbart, verzichtete; sie trugen keine Kerzen und keine Gorbatschow-Plaketten wie so viele, sie wollten keinen besseren Sozialismus, sie wollten gar keinen Sozialismus, und für ihre Hoffnungen brauchten sie keine Predigt und keine Lichterkette. Auch Honichs, das mußte Richard zugeben, bewiesen Mut, denn sie entrollten die DDR-Fahne, das verspottete und verachtete und hier und dort schon, wie Richard wußte, durch einen kreisförmigen Schnitt entwaffnete Tuch; sie schlossen sich an und wurden zugelassen, ohne daß man weiter Notiz von ihnen nahm.
    Man klingelte an Türen. Mancher kam nicht, manche Gardine hob sich, senkte sich, mancher Hund schlug an und wurde nicht beruhigt, und Schallplattenhändler Trüpel hatte ein klug gebrochenes Bein und einen unklug angelegten Gips, humpelte an Krücken bedauernd, bedauernd vorüber. Malivor Marroquins Kostümverleih blieb geschlossen, kein Warnschild auf den Straßen, kein Foto schoß der weißhaarige Chilene von den immer mehr und immer sicherer werdenden Demonstranten.

    … aber dann auf einmal …
    schlugen die Uhren:

    und die Kupferinsel kippt unter dem Gewicht des Volkes, das sich nach Steuerbord stellt, die rotweiß karierten Tischtücher strudeln nach unten, wo Gischt und Meer in einen Trichter spindeln, die Briketts mit zuviel Wasser bröckeln, lösen sich auf –

    (Conferencier, Orden austeilend aus einem Schuhkarton) »Nehmen Sie! Orden! Für vorbildliche Leistungen im sozialistischen Wettbewerb! Nehmen Sie! Alles reichlich da! ’s kostet nischt!«

    die Riesen auf dem Kroch-Hochhaus in Leipzig lassen ihre Hämmer an die Glocke dröhnen, Philipp Londoner sitzt schweigend im abgedunkelten Zimmer, die Arbeiter der Baumwollspinnerei stellen die Maschinen ab und schließen sich den Demonstrationszügen an, hunderttausend Menschen an diesem Montag, die ins Zentrum marschieren, zur rosenversponnenen Universität, zum Gewandhaus, das wie ein Kristall in der Dämmerung leuchtet, das Volk, das seine Stimme probt, sich nicht mehr beirren läßt, der Lügen überdrüssig und der Gitter –

    (Eschschloraque) »Maulwurf, blind in finstrer Erde, Morgen Abend oder Nacht, doch ohne Zeit, das war die Furcht: doch ohne Zeit . Ein Schiff mit einem irren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher