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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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Doppelflinten, inden Läufen Petersilie, dazu Kognak Marke »Edel«, Limonade für die sowjetische Bruderdelegation, Meißner Wein, Ananas, und was der Fernsehkoch sonst empfiehlt
    – Wahrheit! Wahrheit! rief der Minol-Pirol, dort wird sie gedruckt, in den Parteizeitungen, dem ZENTRALORGAN und in den Bezirkszeitungen, siehst du die Drähte, wie Spinnweben fein sind sie, berühre sie, es wird ein Telefon klingeln und ein zitternder Redakteur wird sich melden, ist es denn die Stunde der Tränke, allwöchentlich donnerstags nach der Sitzung des Politbüros (dienstags) und nach der Beratung des ZK-Sekretariats (mittwochs), versammelt euch, ihr Chefredakteure aller Zeitungen der Kupferinsel im tiefen Kupferwald, der Massenorganisationen, beim Leiter des Presseamtes der Regierung, schließt die Funktionäre an die Maschine an, den apparatus: die Sprach-Stanze entrollt die Zunge=lingua! weißbehandschuhte Automatenhände zerren, Sprach-Stanze arbeitet, dann Probelauf! es klirrt am Boden: Wort-Hülsen, Blech-Schlagzeilen, Papierschlangen ringeln sich: WICHTIGSTES KRITERIUM DER OBJEKTIVITÄT IST DIE PARTEILICHKEIT, GENOSSE! OBJEKTIV SEIN HEISST PARTEI ERGREIFEN FÜR DIE HISTORISCHE GESETZMÄSSIGKEIT FÜR DIE REVOLUTION FÜR DEN SOZIALISMUS! Die Sprach-Stanze hat einen scharlachroten Knopf: Lenin-Knopf, der wird jetzt gedrückt: DIE WAHRE PRESSE IST EIN KOLLEKTIVER PROPAGANDIST, AGITATOR, ORGANISATOR! –

    (Conférencier) »Das Ballett der Staatsoper tanzt die Polonaise aus dem ›Schwanensee‹ von Tschaikowski. Für unsere Fernsehzuschauer in Schwarzweiß werde ich die hübschen Tutus unserer Genossen Balletteusen schildern …«

    Küßchen hier, Küßchen da, draußen ein paar Demonstranten, aber alles singt und tanzt, weil’s gute Stimmung bringt, der Chef des Einsatzstabes, dessen Befehlszentrale im Haus des Lehrers liegt, wagt nicht, eine größere Räumungsaktion auf dem Alex anzuordnen. –
    (Conférencier) »Es folgt der ›Wach auf‹-Chor aus Richard Wagners ›Meistersingern‹!«
    (Generalsekretär) »Heute ist die Deutsche DemokratischeRepublik ein Vorposten des Friedens und des Sozialismus in Europa!«
    (Gorbatschow) »Wer zu spät kommt …«
    (Volk, im Chor) »Freiheit!«
    (Polizeiminister) »Ich würde am liebsten hingehen und diese Halunken zusammenschlagen, daß ihnen keine Jacke mehr paßt … Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht!«
    (Volk, im Chor) »Freiheit!«
    (Sicherheitsminister) »Also, wenn der, also der Genosse Gorbatschow weg ist, dann gebe ich den Einsatzbefehl, dann ist Schluß mit dem Humanismus!«

    Poröse Zonen, das Gehirn löscht Wachfelder, man sieht die Alphawellen des Schlafs. Aber dies Anhängsel, das Schild-Organ, Steuerdeck des Stoffwechsels, schläft nie, ein grauer Betonpalast mit teils verspiegelten, teils aufgemalten Fenstern, unter denen im schleimig-feindverseuchten Milchgang die Lymphe kriecht –

    … aber dann auf einmal …
    schlugen die Uhren –

    Gudrun sagte: »Wir treten aus unseren Rollen heraus.« Niklas sagte: »In der Oper spielen sie Fidelio, und beim Gefangenenchor erheben sich die Menschen und singen mit.« Barbara sagte: »Und Barsano sitzt in der Königsloge und ist mit seinen Gedanken ganz woanders und singt nicht mit.« Anne, das Gesicht noch zerschlagen, die Handgelenke von Knüppelhieben geschwollen, nahm eine Kerze. Richard und Robert, der seinen Urlaub für die letzten Tage vor der Entlassung aufgespart hatte, prüften, ob der Schriftzug »Keine Gewalt« auf den Papierschärpen trocken war, die sie sich umhängen würden. Sie gingen auf die Straße.
    Viele Menschen waren unterwegs. Auf allen Gesichtern lag die Angst der vergangenen Tage, Trauer und Unruhe, aber auch etwas Neues: Glanz. Das waren, sah Richard, nicht mehr die bedrückten, tiefschultrigen Menschen der vergangenen Jahre, die ihres Wegs geschlichen waren, einander gegrüßt und vorsichtig zugenickt und allzulangen Blickkontakt vermieden hatten,sie hatten die Köpfe erhoben, noch beklommen atmend, doch schon voller Stolz, daß es möglich war, dieses Geradeaus, daß sie aufrecht gingen und sich bekannten, wer sie waren, was sie wollten und was nicht, daß sie mit wachsender Festigkeit gingen und die gleiche elementare Freude empfanden wie Kinder, die aufgestanden sind und laufen lernen. Schwedes und Orrés henkelten die Bewohner des Glyzinienhauses unter, von Haus Ulenburg, der Karavelle benachbart, kam die kinderreiche Familie des Kohlenhändlers Hauschild
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