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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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eine Bruyèrepfeife mit gebogenem Mundstück und kugelförmigem Kopf hervorgezogen und stopfte sie aus einem Lederbeutel. Christian hob witternd die Nase, sog den würzigen, mit Feigen- und Zedernholzarom gemischten Vanilleduft ein. Alois Lange, der ehemalige Schiffsarzt, Menos Nachbar im Tausendaugenhaus, bekam alljährlich vom Stellvertretenden Vorsitzenden der Kopenhagener Nautischen Akademie eine Kiste geschickt, von der er Meno die Hälfte gab – der Schiffsarzt hatte dem Stellvertretenden Vorsitzenden einmal das Leben gerettet, und so ging, zum Verdruß von Libussa, Langes Frau, der Tabak im Tausendaugenhaus nie zur Neige. Ein Streichholz flammte auf und beleuchtete Menos magere, bleiche Züge mit dem bläulichen Bartschatten; der Widerschein spielte in den braunen, von einzelnen grünen Funken durchwärmten Augen, den Augen Annes und ihres zweiten Bruders, Ulrich, den Augen der Rohdes; auch Christian hatte sie geerbt.
    »Bist du gut durchgekommen? Die Elf ist heute früh ausgefallen. Eine Stunde hat’s gedauert, bis der Schienenersatzverkehr kam. Das wäre was«, Meno schmauchte die Pfeife an, »– für Horchund Guck gewesen, die Flüche an der Haltestelle. Und die Sechs ist umgeleitet worden.« Die Pfeife brannte noch nicht, er zündete ein neues Streichholz an.
    »Hab’ ich gemerkt.«
    »Anne wollte dich anrufen, aber die Telefonleitungen scheinen nicht zu funktionieren, oder was weiß ich, was da wieder mal kaputt ist – sie ist überhaupt nicht durchgekommen.« Die Pfeife brannte, Meno gab Rauch zu Rauch.
    »Gestern hat es oben wie verrückt geschneit, in Zinnwald und Altenberg liegt über ein Meter Schnee, ich hatte schon Angst, daß der Bus nicht fährt. Bei Karsdorf mußten wir aussteigen und dem Fahrer schippen helfen. Die Faschinen auf den Feldern waren umgekippt, den ganzen Neuschnee hat’s auf die Straße geweht.«
    Meno nickte und warf seinem Neffen, der schon fast so groß war wie er und etwas vor ihm durch den Pulverschnee stapfte, einen nachdenklichen Blick zu. »Wie geht’s in der Schule? Kommst du klar?«
    »Bis jetzt ganz gut. Ich werde ein bißchen angestaunt, weil ich aus Dresden komme. Staatsbürgerkunde ist wie üblich.«
    »Und der Lehrer? Gefährlich?«
    »Schwer zu sagen. Er ist gleichzeitig unser Direktor. Wenn man brav nachbetet, was er vorbetet, hat man seine Ruhe. Der Russischlehrer ist ziemlich undurchsichtig. So ein Leiser, scharf Beobachtender, Hundertfünfzigprozentiger. Hat was Katzenhaftes, schleicht durch die Flure und kontrolliert uns im Internat. Heute ist er mit weißen Handschuhen gekommen, hat in die Ecken gegriffen, ob es dort auch wirklich sauber ist. Im Nachbarzimmer haben sie bestimmt alle ihren Bus verpaßt, er hat einen Griebs unterm Spind entdeckt, sie durften noch mal saubermachen.«
    »Provoziert er?«
    »Allerdings.«
    »Sei vorsichtig. Das sind die schlimmsten. Ich kenne den Typ. Man hat immer das Gefühl, daß sie einen durchschauen, man hält den Blick nicht aus, wird nervös, macht Fehler. Und das ist der Fehler.«
    »Das stimmt, das mit dem Durchschauen. Er hat so einenstechenden Blick, ich glaube immer, wenn er mich ansieht, daß er meine Gedanken lesen kann.«
    »Kann er aber nicht. Laß dich nicht nervös machen von solchen Tricks.«
    »›Ein weiser Mann geht mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub.‹«
    Meno sah Christian überrascht an.
    »Hab’s mir gut gemerkt, Meno.«
    Der Schnee, durchzogen von Schlittenspuren, half dem spärlichen Laternenlicht; in dicken Hauben bedeckte er Gartenmauern und die Dächer der wenigen Autos am Rand der Bürgersteige. Zur Linken tauchten die Häuser der Holländischen Leite auf, fast alle gehörten zum Institut des Barons, wie er wegen seines Erbtitels im Viertel allgemein genannt wurde, Baron Ludwig von Arbogast, von dessen riesigem Anwesen am Unteren Plan, in den die Holländische Leite mündete, und Institut halb mit Bewunderung, halb mit Mißtrauen gesprochen wurde. Der Baron war der Pate der Schule, in die Christian bis zum Sommer gegangen war, und immer, wenn er den Baron gesehen hatte, war ihm ein Gespräch zwischen Meno und dem Vater eingefallen: Wie Arbogasts gepflegt-elegante Erscheinung – er trug maßgeschneiderte Anzüge, dazu ein Stöckchen mit silberner Krücke – mit jenem zwar wettergrau gewordenen, aber noch immer gut lesbaren Schriftzug über dem Hauptgebäude des Instituts: FÜR SOZIALISMUS UND FRIEDEN in Übereinstimmung zu bringen war; der Titel »Baron«, das auch auf den
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