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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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elegant angelegten und an der Straßenfront, an der Ecke mit den austernhaften Balkonen, wogig gerundeten Bau des »Elefanten«, wie Christian und Meno das Haus nannten, auf dessen Jugendstilzaun verrostete Blüten saßen wie großflügelige, schwermütige Nachtmotten. Inzwischen hatte Meno die Pfeife ausgekratzt, einige Mintkissen gekaut und war über den mit geborstenen Sandsteinplatten bedeckten, von Weinrosenhecken gesäumten Weg vorgegangen. Mit seinem verschnörkelten, von Reparatur-Messing gefleckten Schlüssel öffnete er die Tür. Christian sah diesen Schlüssel oft vor sich, wenn er in Waldbrunn in seinem Internatszimmer im Bett lag und dachte: Tausendaugenhaus. Während er die Reisetasche auf derSchulter zurechtrückte, wärmte er sich an diesem »Hier« Menos, das für das ganze Viertel galt, die in der Dunkelheit und dem Schnee schlafenden Villen ringsum, die Gärten und das in den Lufttiefen des Parks noch immer rufende Käuzchen, die Blutbuche, die Namen. Meno schaltete das Flurlicht ein; das Haus schien Augen aufzuschlagen. Christian berührte den Sandstein des Torbogens, berührte auch, ein spitzfindiger, nicht mehr in den Grund zurückzuverfolgender Aberglaube, die schmiedeeiserne Blume auf dem Tor – ein seltsam gestalteter Schmuck, hier oben häufig anzutreffen: aufgebogene und schneckenartig gerollte Blütenblätter um eine Rispenzunge, die wiederum kunstfertig von einem mehrfach geschlungenen Wendel umgeben war; ein Gewächs, das Christian wegen der aus Schönheit und Gefährlichkeit gemischten Aura schon als kleinen Jungen fasziniert hatte; manchmal waren halbe Stunden in der Betrachtung der Bienenlilie vergangen. Die Bezeichnung stammte von Meno. Christian folgte seinem Onkel ins Haus hinein.

3.
Das Tausendaugenhaus
    Die oben abgerundete, mit schmiedeeisernen Angeln versehene Tür fiel ins Schloß. Meno legte nicht ab. In einer Vase auf der Konsole des Flurspiegels stand ein Rosenstrauß; Meno schlug ihn vorsichtig in bereitliegendes Papier ein. »Aus dem Wintergarten, von Libussa«, sagte er stolz. »Versuch mal, in dieser Jahreszeit in Dresden so etwas zu bekommen. Wollen sehen, was die anderen zu bieten haben. Bei Centraflor gibt’s nämlich nur Trauerkränze, Weihnachtssterne und Alpenveilchen.« Meno nahm ein flaches Paket, das neben der Vase lag.
    »Anne hat dir ein paar Sachen hergebracht, oben in der Kajüte. Wie machen wir’s mit dem Barometer? Hab’ Anne versprochen, etwas eher da zu sein.«
    »Hast du Geschenkpapier?«
    »In der Küche.«
    »Also bring’ ich eingepacktes Wetter mit.«
    »Bon mot, mein Lieber. Bevor du gehst, schaust du bitte nochmal nach dem Ofen? Handtücher sind oben. Du kannst duschen, wenn du willst, der Badeofen ist geheizt.«
    »Hab’ ich schon, im Internat.«
    »Ich laß dir den Schlüssel da. Hab’ für alle Fälle auch Libussa Bescheid gesagt, falls was sein sollte.« Meno verschwand in der Stube. Bald darauf hörte Christian, der inzwischen Schuhe und Parka ausgezogen hatte, die Ofentür klappern und Briketts poltern. Die Kohlenzange klirrte auf das Ofenblech, Meno kam zurück, Wasser rauschte in der Küche. »Und laß dich nicht von Baba anbetteln, hat genug bekommen, das dicke Tier. Laß ihn in den Flur, die Wärme ist futsch, wenn die Stube offenbleibt, und so eine Ferkelei wie vorgestern möchte ich nicht noch mal erleben.«
    »Was hat er gemacht?«
    »Sich skrupellos hinter die Zehnminutenuhr gehockt! Und ich bin keine Stunde weggewesen.«
    Christian lachte. Meno, der im Spiegel sein Aussehen prüfte und an der Krawatte rückte, knurrte: »So ein Faultier! Mir war nicht zum Lachen zumute, das kann ich dir sagen. Und gestunken hat das … Na ja. Denk also bitte daran.«
    »Wie geht’s in der Edition?«
    »Später«, sagte Meno an der Tür, das flache Paket und die Blumen, die er in einem Beutel verstaut hatte, in der Hand, und tippte an den Hut.
    Christian nahm ein Paar Filzpantoffeln aus dem Schuhschränkchen neben der Tür, zuckte zusammen und wandte sich hastig um. Er hatte ein Knacken gehört, vielleicht war es aus der Küche gekommen, vielleicht von oben, vom Flur, in dem die Kajüte lag, wie die Kammer, in der Christian übernachten würde, von Meno und dem Schiffsarzt genannt wurde. Vielleicht auch arbeitete das Parkett unter dem ausgetretenen Flurläufer. Christian verharrte, aber es war nichts mehr zu hören. Sein Blick wanderte langsam über die vertrauten und ihn doch immer wieder verwundernden Dinge: die gründunkle, etwas
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