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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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Tafeln und Wegweisern im Institutsgarten deutlich angegebene Adelsprädikat mit der Arbeiter- und Bauernmacht: Gern hätte Christian einmal seinem Staatsbürgerkundelehrer diese Frage gestellt.
    In den Institutsgebäuden an der Turmstraße brannte noch Licht. Überschirmt von einem Eßkastanienbaum, der seine Zweige bis weit über den Fußweg auslud, stand die kleine Arbogastsche Sternwarte, die schon lange nicht mehr in öffentlichem Gebrauch war, obwohl eine davor aufgestellte Tafel »Volkssternwarte« versprach. Stab und Ziffernblatt einer Sonnenuhr rosteten im Efeubewuchs des zerfressenen Verputzes. Meno traute man am ehesten zu, schon einmal hinter die Tür an der Rückseite des Observatoriums geblickt zu haben; Christianhatte ihn oft beobachtet, wenn Gespräche über Astronomie und Sterndeutung aufgekommen waren. Dann hatte der Onkel eine Haltung zwischen hintergründiger Amüsiertheit und getarntem Interesse eingenommen und die von den Gästen mitgebrachten Zeitungsausschnitte und Broschüren gemustert, still in eine Ecke gelehnt, die Kugelpfeife im Mund, seinem Bruder Ulrich zuhörend, der angeregt von der Sternenwissenschaft im alten Orient erzählte.
    »Ich habe vorhin in deinem Buch gelesen.«
    Rauch stieg in dichten Bäuschen aus dem Pfeifenkopf. »Sonderbare alte Sachen«, murmelte Meno an der Kreuzung zwischen Turmstraße und Wolfsleite. »Kaum noch jemand kennt sie. Die Zensoren wahrscheinlich und der Alte vom Berge. Das Buch hat mir einen gewichtigen Brief von ihm eingetragen, von Ostrom nach Westrom gewissermaßen. Hat drei Tage gedauert, bis er ankam, und dabei hätte der Alte nur über die Brücke zu gehen brauchen. Aber er soll krank sein, sagt man. – Sonst bin ich ziemlich schräg angesehen worden dafür.«
    »Das Buch gibt keine Antwort auf die Frage, wie der Stahl gehärtet wurde.«
    »Eisenhüttenstadt kommt darin nicht vor.« Meno beschrieb einen Schlenker mit der Pfeife. »Auch vertritt Parzival keinen eindeutig proletarisch-revolutionären Standpunkt, und überhaupt läßt das Klassenbewußtsein der Ritter zu wünschen übrig.«
    »Und die Merseburger Zaubersprüche sind viel zu formalistisch?«
    »Ganz so schlimm steht’s nicht mehr.«
    »Das Hildebrandslied, den Anfang?« Christian sah seinen Onkel bittend an. Meno sog noch einmal an der Pfeife und begann zu rezitieren. Fasziniert wie noch jedesmal lauschte Christian der angenehm timbrierten Stimme, der Theater-Sprechweise; eigentümlich berührt von der uralten Sprache und Wortmagie dieses Liedes, besonders von dem »Ik gihorta dat seggen / dat sih urhettun / aenon muotin« des Beginns und von dem »sunufatarungo« des vierten Verses. Meno sprach über den Anfang hinaus weiter, war schon beim dreizehnten Vers, dem »kund ist mir die Gotteswelt«; im langsamen Fortgehen, mit Kopfnicken die Versmelodie skandierend, sprach er von des Otaker Grimm,von Dietrich und vom Kaiser-Goldwerk, das der König gab, der Hunnenvogt, von des Hadubrands Rede gegen den Vater und vom »ostarliuto«, dem »Fahrer von Osten«, und wie Vater und Sohn kämpften, »bis die Lindenbohlen lützel wurden / zerwirkt von den Waffen …« Leichter Wind war aufgekommen, die Bäume zu beiden Straßenseiten regten sich; Schnee stäubte von den Ästen. An der Wolfsleite, die sie nun erreichten, lag das breit und massig gebaute Haus Wolfsstein wie ein Schiff unter vollen Lichtern; im Fagott, wie der achteckige Anbau genannt wurde, blakte die »Geschichten-Lampe«: Sie sind also beim Erzählen, dachte Christian, und sah seinen Onkel Hans Hoffmann, den Toxikologen, vor sich, wie er Fabian und Muriel den Blauen Eisenhut und den Bittersüßen Nachtschatten erklärte, die er im Fagott selbst zog; dachte an Malivor Marroquin, den weißhaarigen Chilenen, der den Kostümverleih El Sueño und daneben ein Fotoatelier betrieb – als Christian vierzehn Jahre alt geworden war, hatte er sich für den Personalausweis von Marroquin fotografieren lassen müssen; an den Wänden der Stiege, die hinauf zur schweren Ernemann-Plattenkamera führte, standen Zitate aus Leninschriften, stumm durchmustert von der Warteschlange frisch frisierter Mädchen und Jungen; oben schrie der Chilene »Bitte kuk-kähn auf die kleine Stie-klitz, bitte kuk-kähn jäzz!«, worauf man seine Augen auf ein rotes, mit einer Wäscheklammer am Rand eines Lichtschirms befestigtes Vögelchen zu richten hatte.
    »Morgen ist Soirée«, sagte Meno und wies auf das zart und leichtgebaut erscheinende Haus Delphinenort
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