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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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Der Garten des Spinnwebhauses lag finster, geschützt vor Ereignissen und Blicken; kaum, daß Christian die schneeüberstäubten Birnbaum- und Buchenkronen erkennen konnte, deren feines Geäst rauchgespinsthaft über der Tiefe hing; floß in die Konturen, die schmale Kluft zwischen Buchensteig und Dachzinnen, wie Helligkeit in die Schraffur auf alten, unvollendeten Zeichnungen. Er sah den Brunnen vor sich, die fast gänzlich zugewachsene Auffahrt, die vor dem verwitterten, steinernen Brunnenwels einen Bogen beschrieb und über moosige Stufen nach oben führte; der Anfang eines Gedichts war in die Tafel über dem Brunnenwels gemeißelt; verwaschen waren die Buchstaben, halb schon gelöscht. Christian konnte sich auf den Wortlaut nicht besinnen, sosehr er sich auch mühte, dagegen sah er die abgebrochenen Barten des Welses deutlich vor sich, die erblindeten Augen und das dunkle Mooskleid; erinnerte sich an seine abergläubische Furcht vor dem Tier und auch vor dem lang schon verstummten, Gruftkälte atmenden Brunnen, wenn Meno und er Vogelstrom besucht hatten; seine fast schon kindliche Furcht, genährt dann auch von den sonderbaren Gesprächen, die Meno und der hagere Maler im Spinnwebhaus geführt hatten. Dabei waren ihm weniger die Worte und Themen selbst sonderbar erschienen als die Atmosphäre des Hauses; mit kindlichem Un-, allenfalls Halb- oder Dreiviertelverstand hatte er das Wenige, was zu verstehen gewesen war, für richtig und der Erwachsenenwelt angemessen befunden, die sich von ihren Höhen zu ihm, dem Jungen von elf oder zwölf Jahren, herabbeugte. An Worte wie »Merigarto« oder »Magelone« konnte er sich erinnern,Beschwörungen eher als Begriffe, die in der wirklichen Welt etwas zu bedeuten hatten, wie es ihm, in erwachenden Ahnungen, erschienen war; Worte, die ihn eigentümlich berührten und die er nie wieder vergessen hatte, obwohl sie ihm weniger geheimnisvoll erschienen waren als die Gemälde im düsteren vogelstromschen Hausflur: idyllische Landschaften, in hellblauem Licht sich verlierende Gartenszenerien mit flötespielenden Faunen und Quellnymphen, eine niederländerbraune Ahnenreihe, ernst blickende Frauen und Männer darauf mit einer Blume, einer Nessel oder, dies hatte er lange und staunend betrachtet, einer goldenen Schnecke in der Hand. Mit diesen im Flur dahindämmernden Bildern, auf die Vogelstrom und auch Meno nur selten einen Blick warfen, wenn sie daran vorübergingen, schienen die beiden Worte viel eher zu tun zu haben: das für die Insel und der Name eines den Zeitentiefen entstiegenen und wieder darin entschwundenen Mädchens; er hatte sie sich gemerkt und ihren verschollenen Wohlklang immer wieder in murmelnden Selbstgesprächen gekostet. Klang war es auch, was ihm von den Gesprächen haftengeblieben war, eine Art von Flußgeraun aus Vogelstroms Atelier, das im Winter so kalt war, daß Frostblumen nach den Staffeleien und der mit Rautenmustern bedruckten Tapete griffen und die beiden Männer mit rauchendem Atem, Meno mit Vogelstroms Mantel über den Schultern, Vogelstrom selbst in mehreren Pullovern und Hemden, durch den Raum liefen; kaum unterscheidbare Stimmen, wenn sie in der Bibliothek gewesen waren und Christian vom Flur lauschte, eines der Ahnengesichter betrachtend; hin und wieder erklang vorsichtiges Lachen, wurde Tadel oder Lob des jeweiligen Tabaks laut. Manchmal rief Meno und zeigte ihm, der Maler blätterte vorsichtig um, Stahl- oder Kupferstiche in muffig riechenden Folianten, und dann mochte es wohl sein, daß Worte fielen, die als etwas Sonderbares, noch nie Gehörtes im Ohr blieben, Worte wie jene beiden zauberischen Namen. – Das Licht über ihm zitterte wieder auf. Von oben, aus der Dunkelheit unterhalb des Tunnels und des Sibyllenhofs, kroch die Gegenbahn auf sie zu und erreichte zum selben Zeitpunkt wie sie die Schleife, wo die Fahrspur sich teilte und eine Bahn der anderen ausweichen konnte. Man sah den Fahrer alsreglosen Schemen in der vorübergleitenden Kapsel sitzen, in der niemand sonst war, und den Gruß des graubärtigen Schaff ners mit einem knappen Kopfnicken erwidern, dann sank der Wagen hinab und entschwand dem Blick.
    Christian erinnerte sich, im Spinnwebhaus zum ersten Mal etwas von Poe gehört zu haben; Meno und Vogelstrom hatten Illustrationen zu einer Erzählung betrachtet; besonders erinnerte er sich an ein Blatt, auf dem Vogelstroms kunstvolle Radiernadel eine Festung dargestellt hatte, die ins nachtfinstere Land stieg; dann Fürst Prospero
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