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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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gegenüber vom Wolfsstein, den Oberlippenschwung des Dachs und die große Volute über einer Mauerkehlung; und »Soirée« bedeutete (früher hatte sich Christian darunter ein gehobenes Wort für Sauerei vorgestellt), daß Frau von Stern eingeladen hatte in Sütterlinschrift auf Kärtchen aus Königsteiner Bütten, eingeladen zu Erinnerungen an das Winterpalais und das Dresdner Schloß, denn sie war Hofdame gewesen.
    Ebenfalls an der Wolfsleite lag das Italienische Haus, in dem Christians zweiter Rohde-Onkel, Ulrich, und seine Familie lebten. Ulrich war Direktor in einem Volkseigenen Betrieb, seine Frau Barbara arbeitete als Kürschnerin und Damenschneiderinin der »Harmonie« an der Rißleite. Manchmal hatte Christian die Rohdes unter einem mehr oder minder stichhaltigen Vorwand besucht, um den Treppenflur und die Jugendstildetails ihrer Wohnung ausführlich betrachten zu können. Keine Seite des Hauses glich der anderen. Der Flur ragte bugartig nach vorn, in vier Fenster ausgewölbt, wobei eines für sich oben und drei etwas weiter unten, wie bei einem Rundgang, ins Mauerwerk gelassen waren. Das einzelne Fenster oben, über dem das Dach einen langgestreckten Bogen beschrieb, glich einem überdimensionalen Schlüsselloch. Christian stellte die Tasche ab und ging durch das Tor mit den Gondelschnabel-Flügeln ins Haus, um das Licht anzuschalten. Das Tür-Vorhäuschen, ein ins Mauerwerk gelassener, morgenländisch anmutender Pavillon, war nun von den Flurfenstern erhellt, in die, wie beim Haus Delphinenort, Blumen- und Pflanzenornamente eingearbeitet waren. Nachtviolen rankten sich durch die Etagen bis zum Schlüsselloch-Fenster, unterbrochen von einem Mittelstein zwischen den Stockwerken, den zwei gegenläufige Sandstein-Schneckenwendel verzierten. Und links, auf der vom vorragenden Treppenhausbug in Richtung Turmstraße gelegenen Seite, hockte ein schadhafter Altan auf dem Sockel; er gehörte zur Rohdeschen Wohnung, der Putz ließ an vielen Stellen das von der Zeit und vom Regen zerfressene Ziegelwerk sehen.
    »Wollen wir klingeln? − Nicht«, murmelte Meno. »Komm.« Sie gingen weiter, Meno mit gesenktem Kopf, die Hände in die Taschen seines Mantels geschoben, den Hut tief ins Gesicht gezogen.
    Auf der Mondleite streckten Ulmen ihr Totengeäst in den Himmel. Es begann zu schneien. Die Flocken stoben und wehten über den Weg, der kaum genügend Platz für die Ladas, Trabants und Wartburgs ließ, die sich an den äußersten Straßenrand drängten, hier und dort die verwitterten, lückenhaften, von Hagebutten- und Brombeergerank überwucherten Zäune schiefschoben. Die Lichtröcke der noch funktionierenden Laternen begannen zu tanzen, Christian mußte an die Eindrücke so manches Abendspaziergangs denken, wenn ihm Kutschen vor den schweigenden, in Vergangenheit zurückgezogenen Häusern erschienen waren, sich aus der nächtlichen Unschärfe derMond- und Wolfsleite gelöst hatten, an Winterabenden wie diesem unhörbar im Schnee davongerollt oder angekommen waren: Damen mit Hermelinmuffs stiegen aus, nachdem ein Diener beflissen den Schlag geöffnet hatte, die Pferde schnaubten und tänzelten im Geschirr, witterten Hafer und Zucker, den heimatlichen Stall, und dann öffnete sich das Tor mit den beiden sandsteinernen Kugeln auf den Pfeilern und der bizarren Schraubenblüte auf dem Bogen, Rufe ertönten, eine Kammerzofe lief eilends die Treppe hinab, um das Gepäck entgegenzunehmen … Christian schrak zusammen, als er ein Käuzchen klagen hörte. Meno wies auf die Eichen neben dem Tausendaugenhaus, das nun in Sicht gekommen war, halb verborgen hinter dem Tor und der mächtigen Blutbuche. Es lag am Rand eines Straßensacks, in den die Mondleite mündete, er bildete dort, wo die Eichen standen, zugleich ein Knie zwischen Mondleite und Planetenweg. Meno nahm den Schlüssel; aber noch erschien Christian das Haus fern, unzugänglich, in das Buchengeäst wie in eine große Nachtkoralle gewebt. Das »Kiwitt« des Käuzchens drang nun vom Park herüber, der neben der Mondleite steil abfiel und an den Garten des Tausendaugenhauses mit einem Saum von Tränenkiefern grenzte, die ihren harzigen Duft in den metallischen der Schneeluft mischten. »Hier sind wir.«
    Und Christian dachte: Ja. Hier sind wir. Hier bist du zu Haus. Und wenn ich hineingehe, die Türschwelle überschreite, werde ich verwandelt werden. Gegenüber, bei Teerwagens, schien man zu feiern, Gelächter schepperte aus der Wohnung des Physikers im massigen, dennoch
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