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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Ihrem oder meinem. Deshalb müssen wir für sie entscheiden, ob es für sie von Vorteil ist, diese Verträge zu unterschreiben. Ihre Kinder und Enkelkinder werden es uns danken. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn sie Leopold II. irgendwann so anbeten wie jetzt ihre Fetische und Vogelscheuchen.«
    Auf welcher Höhe des langen Flusses befand sich dieses Lager? Vage glaubte er sich zu erinnern, dass es zwischen Bolobo und Tschumbiri gelegen und das Dorf dem Stamm der Bateke angehört hatte. Völlig sicher war er sich nicht. All diese Details standen in seinen Tagebüchern, wenn man den über viele Jahre in Notizheften und auf losen Blättern verteilten Wust an Aufzeichnungen als solche bezeichnen konnte. An jene Unterhaltung mit Henry Morton Stanley konnte ersich jedenfalls deutlich erinnern. Ebenso wie an das Unbehagen, mit dem er sich danach auf seinem Feldbett ausgestreckt hatte. Begann in dieser Nacht sein Glaube an die hochheilige Dreifaltigkeit der drei »C« – Christianity, Civilisation, Commerce – zu schwinden? Christentum, Zivilisation, Handel, darin hatte er bis dahin eine Rechtfertigung für den Kolonialismus gesehen. Seit seiner Zeit als einfacher Angestellter in der Buchhaltungsabteilung der Elder Dempster Line hatte er gelernt, dass alles seinen Preis hatte. Dass Übergriffe unvermeidlich waren. Unter den Pionieren waren natürlich nicht nur Altruisten wie Livingstone, sondern auch gewissenlose Gauner, doch letztlich würden die Errungenschaften die Nachteile bei weitem überwiegen, so dachte er. Das Leben in Afrika sollte ihm zeigen, dass die Wirklichkeit keineswegs so einfach war wie die Theorie.
    Im Verlauf des Jahres, das Roger unter Henry Morton Stanley arbeitete, bewunderte er zwar fortgesetzt den Mut und die Führungsqualitäten, mit denen Stanley seine Expedition durch das weithin unbekannte Gebiet längs des Kongos und seiner zahllosen Nebenflüsse führte, zugleich aber war der Afrikaforscher so etwas wie ein wandelndes Mysterium. Man erzählte sich die widersprüchlichsten Dinge über ihn, und es war schwierig auszumachen, was davon stimmte und was nicht und wie viel Übertreibung und Erdichtung in der vermeintlichen Wahrheit steckte. Stanley gehörte zu den Menschen, die es unmöglich machten, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden.
    Allerdings war es offensichtlich, dass das Bild des großen Wohltäters nicht der Wahrheit entsprach. Das erkannte Roger in Gesprächen mit Aufsehern, die Stanley auf seiner Suche nach Livingstone begleitet hatten, ihren Aussagen nach zu urteilen eine bei weitem nicht so friedliche Expedition wie die gegenwärtige, bei der er sich, zweifellos Anweisungen von Leopold II. selbst folgend, im Umgang mit den verschiedenen Stämmen – insgesamt trafen sie auf vierhundertfünfzig, deren Oberhäupter die vertragliche Abtretung von Land undArbeitskräften unterzeichneten – weitaus zurückhaltender zeigte. Was jene rauen, vom Urwald abgehärteten Männer von der in den Jahren 1871 und 1872 durchgeführten Expedition erzählten, ließ Roger die Haare zu Berge stehen: Dörfer verwüstet, ihre Oberhäupter geköpft und deren Frauen und Kinder erschossen, wenn sie sich weigerten, das Expeditionskorps mit Nahrung zu versorgen oder Träger, Führer und Männer mit Macheten zur Verfügung zu stellen. Stanley war gefürchtet unter diesen alten Weggefährten. Stumm und mit gesenktem Blick nahmen sie seine Maßregelungen entgegen. Dennoch vertrauten sie seinen Entscheidungen blind, und mit geradezu religiöser Andacht sprachen sie von seiner berühmten, neunhundertneunundneunzig Tage dauernden Reise von 1874 bis 1877, die keiner der übrigen weißen und nur wenige der afrikanischen Expeditionsteilnehmer überlebt hatten.
    Als im Februar 1885 auf der Kongo-Konferenz in Berlin, an der nicht ein einziger Kongolese teilnahm, die vierzehn anwesenden Großmächte unter der Ägide von Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland den zweieinhalb Millionen Quadratkilometer großen Kongo und seine zwanzig Millionen Einwohner Leopold II. – dem Henry Morton Stanley nicht von der Seite wich – überließen, damit er »die Region dem Handel erschließen, die Sklaverei abschaffen und den Heiden Zivilisation und Christentum bringen möge«, sah der gerade einundzwanzigjährige, nunmehr zwölf Monate in Afrika lebende Roger darin einen Grund zum Feiern. Ebenso wie die Angestellten der Internationalen Kongo-Gesellschaft, die sich im Hinblick auf die
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