Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
Ungeziefer und Epidemien, die ihm offenbar so wenig anhaben konnten wie einem Titanen aus den homerischen Sagen oder biblischen Geschichten.
    »Verursacht Ihnen das, was wir hier tun, nicht manchmal Gewissensbisse?«
    Die Frage war dem jungen Roger herausgerutscht. In der Mitte des Lagers loderte das Feuer, darin verkokelten knisternd Zweige und versehentlich zu nahe gekommene Insekten.
    »Gewissensbisse?« Stanley runzelte die Stirn und verzog sein sonnenverbranntes, sommersprossiges Gesicht, als würde er dieses Wort zum ersten Mal hören und versuchen, seine Bedeutung zu erraten. »Weshalb?«
    »Wegen der Verträge, die wir sie unterzeichnen lassen«, überwand der junge Roger seine Befangenheit. »Sie legen ihr Leben, ihre Dörfer, alles, was sie haben, in die Hände der Internationalen Kongo-Gesellschaft. Nicht einer weiß, was er da unterschreibt, weil sie kein Französisch verstehen.«
    »Selbst wenn sie Französisch könnten, würden sie diese Verträge nicht verstehen«, sagte der Forscher mit dem offenen Lachen, das einer seiner sympathischsten Züge war. »Nicht einmal ich verstehe genau, was sie besagen.«
    Stanley war kräftig und untersetzt. Er wirkte jung, hatte blitzende graue Augen und einen dichten Schnurrbart. Er trug stets hohe Schaftstiefel, eine helle, mit etlichen Taschen versehene Weste und eine Pistole am Gürtel. Als er nun abermals auflachte, stimmten die Vormänner, die rauchend mit ihren Kaffeebechern ums Lagerfeuer saßen, in sein Lachen ein. Nur Roger lachte nicht.
    »Ich schon, auch wenn sie in der Tat in einem solchen Kauderwelsch verfasst sind, als sollte man sie gar nicht verstehen«, antwortete er respektvoll. »Zusammengefasst steht darin schlicht: Sie überschreiben ihr Land der Internationalen Kongo-Gesellschaft, die ihnen dafür soziale Hilfeleistung verspricht. Sie verpflichten sich, bei der Anlage von Wegen, Brücken, Molen, Faktoreien mitzuhelfen. Männer für Feldarbeit und als Ordnungskräfte zur Verfügung zu stellen. Beamte und Hilfsarbeiter mit Lebensmitteln zu versorgen, solange die Arbeiten andauern. Und sie bekommen von der Gesellschaft nichts im Gegenzug. Weder Lohn noch Entschädigung. Ich dachte, wir seien zum Wohl der Afrikaner hier, Mr. Stanley. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, den ich bewundere, seit ich denken kann, mir Gründe nennen könnten, dies weiterhin zu glauben. Dass diese Verträge wirklich zum Wohl der Afrikaner sind.«
    Ein langes Schweigen setzte ein. Das Feuer knisterte, und hin und wieder hörte man ein wildes Tier auf nächtlichem Beutezug brüllen. Es hatte seit einer Weile zu regnen aufgehört, die Luft war feucht und schwül, und es schien, als würde ringsum alles austreiben, wachsen, wuchern. Und noch achtzehn Jahre später sah Roger unter den wirren Bildern, die in seinem fiebrigen Kopf kreisten, den überraschten, für Momente spöttischen und dann scharfen Blick, mit dem Henry Morton Stanley ihn musterte.
    »Afrika ist kein Ort für Schwächlinge«, sagte er schließlich, als würde er mit sich selbst sprechen. »Sich über so etwas Gedanken zu machen, ist ein Zeichen von Schwäche. In dieser Welt hier, meine ich. Wir sind nicht in den Vereinigten Staatenund auch nicht in England, das werden Sie gemerkt haben. In Afrika überleben Schwächlinge nicht lange. Fieber, Stiche, vergiftete Pfeile oder die Tsetsefliege machen ihnen den Garaus.«
    Stanley kam ursprünglich aus Wales, hatte aber so lange in den Vereinigten Staaten gelebt, dass sein Englisch und seine ganze Ausdrucksweise amerikanisch gefärbt waren.
    »Natürlich ist das alles zu ihrem Wohl«, fügte Stanley hinzu und machte eine Kopfbewegung zu den im Kreis stehenden Rundhütten des Dorfes hin, in deren Nähe sie das Lager aufgeschlagen hatten. »Es werden Missionare kommen, die Christen aus ihnen machen und ihnen beibringen werden, dass man seinen Nächsten nicht auffressen darf. Ärzte, die sie gegen Epidemien impfen und sich besser um sie kümmern werden als ihre Wunderheiler. Unternehmen werden ihnen Arbeit geben. In den Schulen werden sie lernen, sich zu kleiden, zum wahren Gott zu beten und sich in einer christlichen, zivilisierten Sprache auszudrücken statt in diesen Affendialekten. Nach und nach werden sie die barbarischen Bräuche aufgeben und zu modernen Menschen werden. Sie würden uns die Füße küssen, wenn sie wüssten, was wir alles für sie tun. Aber ihr geistiger Entwicklungsstand ist eher vergleichbar mit dem eines Krokodils oder Nilpferds als mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher