Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt
Autoren: Arno Strobel
Vom Netzwerk:
der Tür ein schrilles Läuten zu hören war.
    Eine Zeitlang geschah nichts, und mein Partner hatte schon die Hand gehoben, um noch mal zu klingeln, als Schritte zu hören waren und das Schloss klackte.
    Das Gesicht eines Mannes tauchte in der nur ein Stück weit geöffneten Tür auf, und mir stockte der Atem.

2
    28. Januar 1994
    Juliane wohnte mit ihren Eltern am Ende einer Sackgasse, gleich neben einem kleinen Spielplatz. Petra Körprich hatte sich nichts dabei gedacht, ihre vierjährige Tochter draußen spielen zu lassen, während sie das Mittagessen zubereitete. Die kurze Straße wurde fast ausschließlich von den wenigen Anwohnern benutzt, außerdem konnte sie den Spielplatz vom Küchenfenster aus einsehen. Als sie die Spülmaschine eingeräumt hatte und wieder einen Blick nach draußen warf, war Juliane verschwunden. Nach zehn Minuten rief sie ihren Mann im Büro an, eine Stunde später informierte der die Polizei.
    Drei Tage lang suchten wir mit Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die gesamte Umgebung ab, bis der schreckliche Verdacht zur Gewissheit wurde. Die Kollegen fanden das Mädchen in einem Gebüsch im Aachener Wald, nicht weit von der Monschauer Straße und nur ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Jemand hatte Juliane erwürgt, den kleinen Körper dann in einen blauen Plastiksack gesteckt und ihn im Wald entsorgt wie Müll, den man irgendwo unbeobachtet loswerden wollte.
    Seit einem knappen halben Jahr war ich bei der Kripo, und es war der erste Mordfall, an dem ich als Junior-Partner von Kommissar Bernd Menkhoff mitarbeitete. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Anblick eines Mordopfers noch erspart geblieben. Als ich dann dieses weiße Gesichtchen im Dreck liegen sah mit den dunklen Flecken auf den eingefallenen Wangen, eingerahmt von einer Flut aus blonden, schmutzverklebten Locken, als ich meinen Blick nicht von den hässlichen, blauschwarzen Würgemalen an ihrem zarten Kinderhals abwenden konnte, da hätte ich weinen können vor Schmerz und gleichzeitig schreien vor Wut. »Reißen Sie sich zusammen«, raunte Kommissar Menkhoff mir zu, der mir angesehen haben musste, wie sehr ich gegen einen Gefühlsausbruch ankämpfte.
    Als ich später den Wagen über den schmalen Pfad aus dem Wald herauslenkte, fragte er: »Wie alt sind Sie noch mal, Herr Seifert? Vierundzwanzig?«
    »Dreiundzwanzig«, antwortete ich kleinlaut.
    »Das ist alt genug, um sich etwas hinter die Ohren zu schreiben, Herr Kriminalobermeister: Niemals, hören Sie, absolut niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen. Wenn so ein kleines Mädchen von einem Dreckschwein getötet wird, dann ist das entsetzlich, aber auch wenn es unmenschlich klingt – die Kleine ist tot, und sie ist ein Fall, den wir aufklären müssen, kapiert? Wir können dem Kind nicht mehr helfen, aber wir können dafür sorgen, dass dieser Abschaum so was nicht noch mal tun kann.« Menkhoff schlug kurz mit der flachen Hand gegen das Handschuhfach. »Verdammt, Herr Kollege, wenn Sie Gefühle zulassen, verlieren Sie den neutralen Blick, Sie übersehen Details, weil Ihre Sinne betäubt sind. Sie müssen lernen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Darauf will ich mich verlassen können, verstanden?«
    Ich verstand, musste in den folgenden Tagen aber immer wieder feststellen, dass Verstehen und Umsetzen zwei grundsätzlich unterschiedliche Dinge waren. Jedes Mal, wenn sich wieder ein Hinweis als wertlos herausstellte, überkam mich eine tiefe Niedergeschlagenheit, weil wir dieses Monster vielleicht nie fassen würden, und Wut und Angst, weil vielleicht noch ein Kind sterben würde, während wir vollkommen ahnungslos waren.
    Niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen.
    Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich Kommissar Menkhoff schon sehr bald sehr eindringlich an seine eigenen Worte erinnern würde.

3
    22. Juli 2009
    Ich hatte ihn sofort erkannt, und doch dauerte es einen Moment, bis ich in der Lage war, zu realisieren, dass es tatsächlich Dr. Joachim Lichner war, der da vor uns stand. Älter, mit schmalerem Gesicht, und auch der Ansatz der kurzgeschnittenen, blonden Haare war ein Stück nach hinten gerutscht, aber mit denselben klugen, wachen Augen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Augen, die uns nun ohne erkennbare Überraschung musterten. Mit einem Blick zur Seite erkannte ich, dass es Menkhoff ähnlich ergehen musste wie mir. Selten hatte ich meinen Kollegen so verblüfft dreinschauen sehen wie in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher