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0871 - Der silberne Tod

0871 - Der silberne Tod

Titel: 0871 - Der silberne Tod
Autoren: Jason Dark
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Die Glocken teilten es ihm mit. Sie folterten ihn auf ihre Weise. Sie waren grausam und unerbittlich.
    Jeder Schlag wühlte ihn auf, brachte in seinem Kopf einiges durcheinander und sorgte dafür, daß sein schlechtes Gewissen nicht zur Ruhe kam.
    »Hört auf!« keuchte er. »Hört doch endlich auf…«
    Sie hörten nicht auf. Die Elektronik bestimmte, wann die Glocken verstummten, und jede Sekunde, die verging, kam ihm doppelt so lang vor wie sonst.
    Crisson litt entsetzlich.
    Er stand unter einem irrsinnigen Druck. Die Pein drückte nicht nur seinen Geist tiefer, sondern auch seinen Körper. Mit dem Arm schob er noch den Suppenteller zur Seite und schlug dann mit dem Kopf auf.
    Die Hände lösten sich von den Ohren. Rechts und links des Kopfes blieben sie liegen, die Hände zitterten, und mit den Fingernägeln kratzte er über die Tischplatte hinweg.
    Er atmete nicht, er heulte auf. Tränen waren ihm aus den Augen gelaufen und hatten sein Gesicht genäßt. Seine Füße scharrten über den Boden, und der kalte Schweiß rann ihm wie Bachwasser über das Gesicht.
    Die Glocken läuteten noch immer.
    Sie kannten keine Gnade, sie hielten die Zeit bis zur letzten Sekunde ein. Sie läuteten den Tag aus und erinnerten die Menschen noch einmal daran, daß es Dinge gab, die wichtiger waren als Arbeit oder die Gier nach dem Geld.
    Seelenheil sollte ihnen das Geläut bringen, aber bei Crisson erreichten sie das Gegenteil: Er wußte, daß er als Geistlicher versagt hatte, die Sünden der Vergangenheit ließen sich nicht abschütteln, der Glockenklang war unerbittlich, und er hüllte den verzweifelten Mann ein wie eine gewaltige Wolke.
    Irgendwann wurden die Glocken leiser, als hätten sie sich in den Kirchturm zurückgezogen. Zuletzt wehten sie nur mehr als schwache Botschaft über das Land und den kleinen Ort hinweg, um schließlich ganz zu verstummen.
    Stille trat ein.
    Für Crisson dauerte es eine Weile, bis er diese Stille überhaupt registriert hatte. Mühsam hob er seinen Oberkörper an. Die Suppe war längst kalt geworden. Er hätte sie auch jetzt nicht mehr essen können, weil er zu aufgeregt war. Er spürte in sich eine Peitsche, die seine Nerven mit brutalen Schlägen bearbeitete, und als er sich in seiner Küche umsah, da wirkte sein Gesicht wie das eines gehetzten Menschen, der in eine Falle gelockt worden war.
    Er lehnte sich an.
    Sein Körper schwankte. Oder schwankte das Zimmer? Er wußte es nicht, alles war so furchtbar grausam. Hier hatte ein Stück Vergangenheit sein Leben erreicht und ihn völlig aus der Fassung gebracht. Aber warum? Warum so plötzlich? Warum war ihm das ausgerechnet während des normalen Abendläutens in den Sinn gekommen?
    Crisson kannte die Antwort nicht. Er wußte aber, daß es eine geben mußte, daß die sogar tief in ihm steckte, ohne daß er es schaffte, sie hervorzuholen.
    Er mußte etwas tun, doch er wußte noch nicht, was er unternehmen sollte. Er dachte daran, daß sein Leben normal weitergehen konnte. Er würde sich duschen, dann hinlegen und schlafen. Am anderen Morgen mußte er früh auf den Beinen sein, um die erste Messe lesen zu können.
    So würde es sein, so war es immer gewesen.
    An diesem Abend aber glaubte Crisson nicht mehr daran. Alles hatte sich verändert. Nicht außen, sondern bei ihm. Der Glockenklang war nur eine Vorwarnung gewesen, und plötzlich sagte ihm sogar sein Verstand und nicht die Psyche, daß er den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde.
    Diese Ahnung schüttelte Crisson so stark durch, daß er nicht in der Lage war, sich zu erheben. Er zitterte noch stärker, seine Zähne schlugen aufeinander. Kälte und Hitze wanderten wie Eis und Feuer durch seinen Körper und hatten bei ihm die Kontrolle übernommen.
    Er wußte selbst, daß er nicht ewig an diesem Tisch sitzen konnte. Außerdem behagte ihm die Luft zwischen den vier Zimmerwänden nicht mehr. Sie war so anders geworden, sie roch nach Schweiß und nach der Suppe.
    Roger stand auf.
    Es klappte, denn ein Ruck hatte genügt. Vor dem Tisch blieb er stehen, die Hände auf die Platte gestützt, den Kopf nach unten gedrückt, so starrte er gegen die kalte Oberfläche der Suppe, ohne sie eigentlich richtig zu sehen.
    Mit schweren Schritten passierte er den alten zweiflammigen Ofen und öffnete das Fenster.
    Die abendliche Luft schlug ihm als Schwall entgegen. Er riß den Mund auf, um sie zu trinken.
    Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder neu geboren zu werden. Es lag nur an der Luft, und immer wieder
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