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Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut
Autoren: Colin Cotterill
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Schulter. Opa Jah war kein großer Redner, und ich hatte keine Ahnung, was mir diese Geste sagen sollte. Vielleicht wollte er mich auf die beiden Kunden aufmerksam machen, die im Laden warteten, weil keiner da war, um sie zu bedienen. Undenkbar, dass er vielleicht mal seinen Hintern hochbekam und sich zur Abwechslung ein bisschen nützlich machte. Nein. Dafür fuhren zu viele Autos vorbei, die beobachtet werden wollten. Ich rief nach Mair, aber es kam niemand, also bediente ich die Kunden selbst und ging über den betonierten Hof in unsere Küche. Ich stieß auf einen Anblick, der mich an ein Militärgericht erinnerte.
    Am einen Ende des Küchentischs saß meine Schwester Sissi, die früher mein älterer Bruder Somkiet gewesen war. Den Platz am anderen Ende des Tischs nahm mein derzeitiger Bruder Arny ein. Er war das, was man allgemein als Bodybuilder bezeichnete, und heute Abend spannte sich das T-Shirt derart stramm über seine Muskeln, dass es wie aufgemalt aussah. Er hielt einen Klumpen Taschentücher in der rechten Hand, und es war nicht zu übersehen, dass er geweint hatte.
    Zwischen den beiden saß Mair, meine Mutter. Sie trug ein förmliches schwarzes Kostüm, das normalerweise traurigen Anlässen vorbehalten war. Sie hatte etwas Make-up aufgetragen, ihr Haar zu einem laotischen Knoten hochgebunden und sah aus wie eine elegante Bestattungsunternehmerin in den besten Jahren, schöner als ich sie seit Monaten gesehen hatte. Allerdings fiel mir auf, dass die weiße Bluse, die sie unter ihrer Jacke trug, falsch geknöpft war. Es mochte ein Fashion Statement sein, aber ich wusste es besser. Ich konnte die Stille nicht ertragen.
    »Jemand gestorben?«, fragte ich.
    »Wir«, sagte Sissi und starrte geflissentlich zu den Deckenbalken hinauf. Die Temperaturen lagen an diesem Tag bei bis zu vierunddreißig Grad im Schatten, doch wie üblich trug sie eine Sonnenbrille und einen dicken Schal, weil sie nicht davon abzubringen war, dass sie mit der schlabberigen Haut an ihrem Hals wie ein Truthahn aussah. Das war nicht der Fall, ihr Hals war okay. Es gab wirklich nichts Traurigeres als eine alternde, transsexuelle Ex-Schönheitskönigin. Zumindest dachte ich das früher.
    »Möchte mir vielleicht jemand erzählen, was hier passiert ist?«, flehte ich. Offenbar nicht. Keiner sagte was. Die Eidechsen an der Decke gingen um die – bislang dunkle – Neonröhre über unseren Köpfen in Stellung und zuckten aus Vorfreude auf das bevorstehende Festmahl. Doch meine Familie schwieg.
    »Sie hat uns verkauft.«
    Die Stimme kam von hinter mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass Opa Jah mir gefolgt war, doch nun stand er mit verschränkten Armen in der Tür. Es war so lange her, seit ich ihn zuletzt hatte sprechen hören, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie seine Stimme klang. Jetzt war die Familie vollständig, wenn auch jeder für sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Mair an. Die wundervollste, wenn auch manchmal unheimlichste Eigenschaft meiner Mutter war, dass nichts sie jemals aus der Fassung zu bringen schien. Selbst grauenvollsten Momenten – Tragödien oder Unfällen – begegnete sie mit dem immer gleichen, dürren Lächeln. Dann funkelten ihre hübschen Augen, und kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Schon oft hatte ich mir vorgestellt, wie sie mit der Titanic unterging, Leonardo DiCaprio neben ihr strampelte und Wasser spuckte und Mairs rätselhaftes Lächeln langsam in den eisigen Fluten versank. Dort an unserem Küchentisch trug sie ihr Titanic -Lächeln, und ich wusste, dass sich dahinter etwas Grauenvolles verbarg.
    »Mair, was hast du getan?«, fragte ich.
    »Ich …«
    »Sie hat alles verkauft«, platzte Sissi heraus. »Das Haus, den Laden, alles.«
    Das konnte unmöglich stimmen.
    »Mair?« Wieder sah ich sie an. Sie zog eine Augenbraue hoch, nur ein Stückchen. Kein Dementi. Ich fühlte mich, als würden mir die Dielen unter den Füßen weggerissen. Ich ließ mich auf einen der leeren Stühle sinken.
    »Wir werden ein besseres Leben haben«, sagte Mair. »Ich habe beschlossen, dass es Zeit wird wegzuziehen.«
    »Beachte bitte das hohe Maß an Rücksprache«, fauchte Sissi.
    »Wie konntest du so eine Entscheidung fällen, ohne mit uns zu sprechen?«, fragte ich. »Das ist unser Zuhause. Wir sind hier alle aufgewachsen.«
    »Und wir sollten hier alle sterben«, fügte Opa hinzu.
    »Eine Veränderung ist so gut wie ein Urlaub«, sagte Mair. »Ich denke dabei an euch alle. Ihr werdet mir dafür noch
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