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Der Todesbote

Der Todesbote

Titel: Der Todesbote
Autoren: Jaques Buval
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lange, und die Reihen des Saales lichten sich.
    Onoprienko sitzt noch immer auf seiner Bank. An diesem Tag soll er erst in das Gefängnis überstellt werden, wenn der Gerichtssaal völlig geräumt ist.
    Auch der Gerichtsdiener ist froh, dass dieser außergewöhnlich lang dauernde Prozess zu Ende ist. Noch einmal schweift sein Blick durch die Reihen des Saales. Da bemerkt er eine alte Frau mit einem bunten Kopftuch, die wie teilnahmslos in der verbliebenen Menge steht. Er geht auf sie zu und fragt sie:
    »Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?«
    »Vielen Dank, junger Mann«, und dabei lächelt sie ihn an.
    »Es geht mir gut, ich bin nur sehr aufgeregt. Diese Stunden waren wohl ein wenig zu viel für eine Frau in meinem Alter.«
    Nach einer Weile fährt sie fort: »Aber ein wenig zufriedener bin ich doch. Ich glaube, dieser Mann hat seine gerechte Strafe erhalten.«
    »Warum? Kennen Sie eines der Opfer dieses Menschen, falls man ihn überhaupt so nennen kann?«
    »Ja, es ist schon einige Jahre her, da besuchte dieser Mann unser Dorf. Und unser kleines Haus. Es war furchtbar. Er tötete alles, was mir blieb und was ich liebte, denn es war mein Fleisch und mein Blut. Meine einzige Freude, meine Enkelkinder, die ich über alles liebte. Alle, ja alle sind sie jetzt tot.
    Nur ich alte Frau lebe noch. Warum – das frage ich mich immer – hat er nicht mich getötet?«
    »Sind Sie mit diesem Urteil zufrieden?«, fragt er sie.
    »Kann ich das?«
    Ergriffen von dieser Antwort lässt es sich der Mann nicht nehmen, sie persönlich aus dem Gerichtsgebäude hinaus zu begleiten.

    Das erste Gespräch mit ihm
nach seinem Urteil
    Wie man Anatolij in das Gerichtsgebäude gebracht hat, so verlässt er es auch wieder. Er ist allein mit sich und seinen Gedanken und mit einem Urteil, das seinen Tod bedeuten kann.
    Eskortiert von acht Sicherheitsbeamten der Miliz trottet Onoprienko teilnahmslos, nahezu apathisch wirkend, zum bereit stehenden Transportwagen. An Händen und Füßen mit schweren Eisen gefesselt versucht er Schritt zu halten. Doch es gelingt ihm nicht. Die Fußfesseln erlauben ihm nur kleine Schritte, und die Stufen des Seitenausganges sind hoch. Viel zu hoch für die nur kurzen Ketten zwischen den Fußgelenken.
    Onoprienko stolpert. Er fällt die letzten Stufen herab und schlägt krachend zu Boden. Die umstehenden Polizisten lachen lauthals. Wutentbrannt versucht er sich aufzurichten. Aber es gelingt ihm nicht. Einer der Beamten steht auf einer der Ketten, die seine Handgelenke fesseln und genießt die missliche Situation des Gefangenen. Erst nach Minuten erhält er die Möglichkeit, sich zu erheben. Unter dem Gelächter der Umstehenden schreitet er zum Gefängniswagen. Sichtlich erleichtert besteigt er das Fahrzeug und nimmt in einer von schweren Eisengittern umrahmten, kleinen Kabine im Inneren des Fahrzeuges Platz.
    Der Henker der Ukraine sitzt stumm, beide Hände vor dem Gesicht, auf der harten Holzbank. Langsam zieht er seine geliebte Wollmütze noch tiefer in die Stirn. Dann stützt er seine Ellbogen auf die Knie. Offensichtlich möchte er nun seine Ruhe haben.
    Erschreckt fährt er zusammen, als ihn ein Begleitpolizist anspricht: »Nun hast du das bekommen, was wir dir schon seit Jahren wünschen. Komm nur wieder hinter die starken Mauern des Gefängnisses; nun bist du kein Untersuchungshäftling mehr. Nun bist du ein Todeskandidat und wirst erleben, wie man mit solchen wie dir umgeht. Ich wünsche dir viel Spaß dabei und ich wünsche dir, dass das Urteil auch vollstreckt wird.«
    Doch Onoprienko will die Worte nicht hören und vergräbt sein Gesicht noch tiefer.
    Mit Aufblendlicht fährt der alte Transporter holpernd der Polizeieskorte mit Blaulicht hinterher. Wie bei einem Staatsbesuch will man den Insassen sicher ans Ziel bringen.
    Die Fahrer und Beifahrer im Fond des Wagens genießen die außergewöhnliche Tour. Sie geben ihre Freude über das Urteil zum Ausdruck. Sie machen Witze über die Zukunft ihres Begleiters. Sie lachen lauthals und klatschen sich auf die Schenkel. Zum Glück kann Onoprienko auf der Ladefläche des Wagens die hämischen Sprüche über ihn nicht hören. Er wäre erschreckt über ihre Wünsche gewesen. Denn Anatolij Onoprienko weiß sehr genau, welch schwere Zeit ihn nun in der Strafanstalt erwartet und welch harter Strafvollzug auf ihn zukommt.
    Die Menschen am Straßenrand bleiben stehen und blicken dem Transporter hinterher. Sie wissen nicht, wer sich in diesem Wagen befindet.
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