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Der Todesbote

Der Todesbote

Titel: Der Todesbote
Autoren: Jaques Buval
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einer Weile sagt er:
    »Lassen Sie uns woanders darüber reden. Hier gibt es so hohe Wände und ein so großes Echo.«
    Dabei sieht man den Schalk und das Glitzern in seinen Augen, das so viele Frauen betörte. Er gibt sich äußerst charmant. Und das an einem solchen Tag und nur wenige Minuten vor seinem Urteil, das ihn sein Leben kosten kann.
    Das hohe Gericht betritt den Saal, und die am Prozess Beteiligten und die Zuhörer erheben sich von ihren Plätzen.
    Der Vorsitzende Richter wartet ab, bis Ruhe eingekehrt ist und beginnt – stehend, wie seine Kollegen – mit der Urteilsverkündung. Ungewöhnlich und beschwerlich für die ausländischen Berichterstatter ist, dass die Zuhörer während der ganzen Urteilsverkündung ebenfalls stehen müssen.
    Nur Onoprienko nimmt wieder Platz auf seiner Bank, bekreuzigt sich und wartet gespannt auf die Ausführungen des Vorsitzenden Richters. Es ist ein Mittwoch im März 1998, als der Richter Dimitrij Lipskij das Urteil gegen Anatolij Onoprienko verkündet.
    Für die Urteilsbegründung nehmen sich die Richter viel Zeit.
    Während dieser gesamten Zeit haben alle Prozessteilnehmer zu stehen. Für viele der älteren Menschen eine unbeschreibliche Anstrengung. Die Verlesung muss mehrfach unterbrochen werden, da mehrere Angehörige der Opfer zusammenbrechen und aus dem Gerichtssaal gebracht werden müssen. Immer wieder vernimmt das Gericht das erschütternde Aufschluchzen von den Familienmitgliedern der Opfer.
    Außergewöhnliche Täter verlangen nach einem außergewöhnlichen Urteil. Zunächst verkündet der Vorsitzende Richter die Einzelstrafen:
    »Nach Artikel 215 Teil 3 des Kriminalkodexes der Ukraine: 9 Jahre Freiheitsentzug.
    Nach Artikel 215 Teil 2: 4 Jahre Freiheitsentzug.
    Nach den Artikeln 17 Teil 2 und Artikel 215 Teil 3: 6 Jahre Freiheitsentzug …«
    Für das Verlesen der Einzelstrafen benötigt der Vorsitzende Richter fast eine ganze Stunde. Doch die Einzelstrafen interessieren in diesem Saal niemanden. Alle warten gespannt auf die endgültige Strafzumessung für den Angeklagten Onoprienko.
    Der Richter macht eine längere Pause. Er blickt zur Bank des Angeklagten, der ihn keines Blickes würdigt. Dann fährt er mit seinen Ausführungen fort, die für Aufruhr im Gerichtssaal sorgen sollten.
    »Sie, Angeklagter Anatolij Onoprienko, sind eine Gefahr für die Menschen, ja für die ganze Menschheit«, betont der Richter ohne Emotionen. Er will gerade mit seinen Ausführungen fortfahren, da springt der Angeklagte auf und schreit zum Richterpult: »Richtet mich doch öffentlich hin!«
    Die anwesenden Sicherheitsbeamten haben Mühe, die Zuhörer in Zaum zu halten. Offensichtlich ahnt Onoprienko das Urteil. Immer wieder wiederholt er nur diesen einen Satz.
    Erst als sich der Saal beruhigt hat und Onoprienko erneut auf seiner Bank Platz genommen hat, fährt das Gericht mit der Verkündung des Endurteils fort: »Aufgrund der erwähnten Artikel und laut Kriminalkodex der Ukraine hat das Gericht folgende Endscheidung getroffen: Der Bürger Anatolij Onoprienko wird zur Todesstrafe durch Erschießen verurteilt.
    Sein gesamtes Vermögen wird konfisziert.«
    Die Bürger des Landes nehmen das Urteil mit Freude an. Sie applaudieren und rufen unentwegt: »Bravo, bravo.«
    Sie werfen sich in die Arme ihres fremden Nachbarn, der neben ihnen steht und wie sie nur auf dieses eine Urteil gewartet hat. Ein wahrer Freudentaumel macht sich unter den Zuhörern breit. Sie alle haben nur auf ein Wort gewartet:
    »Tod.«
    Onoprienko, der Todeskandidat, blickt keine Sekunde auf.
    Als wolle er das Urteil nicht hören, versteckt er sein Gesicht noch immer in seinen Händen. Er hat nun offenbar Probleme, sich zu beherrschen. Er will sie nicht sehen, die Richter, die dieses Urteil gesprochen haben. Und auch nicht die, die es offensichtlich für gerecht halten.
    Er wirft einen fragenden Blick zu seinem Anwalt. Doch der beachtet ihn nicht. Er erkennt, er ist allein mit diesem Urteil.
    Plötzlich nestelt er an seiner Kleidung. Er wirkt nun angespannt und nervös. Schock und Entsetzen machen sich in ihm breit. Er blickt zu den Sicherheitsbeamten, die vor seinem Käfig stehen. Onoprienko hofft, diesen Raum endlich verlassen zu können. Als er den Beamten anmerkt, dass sie keine Anstalten machen, sich zu rühren, richtet er seinen Blick zur Decke des Saales und zeichnet sich mit dem Daumen beider Hände ein Kreuz auf die Stirn.
    Empörung bricht aus in den Reihen der Zuhörer. »Dieses Schwein bekreuzigt
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