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Der Todesbote

Der Todesbote

Titel: Der Todesbote
Autoren: Jaques Buval
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Anatolij
    Onoprienko. Langsam zwängt sie sich durch die aufgebrachte Menge. Niemand versperrt ihr den Weg. Nur noch wenige Meter trennen sie von dem gläsernen Portal.
    In diesem Augenblick erhalten die Sicherheitsbeamten am Eingang den Befehl, die wartende Menge in jeweils kleinen Gruppen von acht Personen einzulassen. Wildes Gedränge beherrscht die Szene. Jeder der Wartenden hofft, Einlass zu finden. Längst haben sie feststellen können, dass der Platz in dem zur Attraktion gewordenen Sitzungssaal niemals ausreichen wird. Doch die Beamten haben die Situation im Griff.
    Die kleinen Gruppen betreten ehrfurchtsvoll den großen, doch schlicht eingerichteten Sitzungssaal. Die Fahne der Nation hinter dem Richtertisch ist die einzige Dekoration in diesem Raum. Zunächst muss die Menschenansammlung wie an jedem Verhandlungstag eine Sicherheitsschleuse passieren.
    Wie auf einem Flughafen werden sie durchleuchtet. Jedes Gepäckstück wird nach Waffen durchsucht.
    Eilig suchen die Besucher nach den besten Plätzen. Alle wollen sie so nah wie möglich an dem eigens für diesen Prozess errichteten Stahlkäfig Platz finden. Allmählich füllt sich der Saal. Ein Geraune und Getuschel beherrscht den Gerichtssaal. Viele, die den Käfig betrachten, bekreuzigen sich.
    Doch noch ist er leer.
    Der Sitzungssaal ist inzwischen bis zum Bersten gefüllt.
    Unruhig warten die Zuhörer auf das Erscheinen des Angeklagten. Doch zunächst betreten der Staatsanwalt und die Verteidigung Onoprienkos, in würdevoller Robe gekleidet, den Raum und nehmen an den für sie vorgesehenen Tischen Platz.
    Als sich die Tür öffnet und zunächst zehn Sicherheitsbeamte den Raum hereinkommen, hält es die Zuschauer nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie wissen, der Zeitpunkt ist gekommen. Die Beamten verteilen sich im Saal. Dann erscheinen Beamte in Zivil, auch sie nehmen Aufstellung. Man will kein Risiko eingehen.
    Und dann erscheint er. Begleitet von sechs hoch gewachsenen uniformierten Sicherheitsbeamten betritt Anatolij Onoprienko den Saal. Mit Handschellen führt man ihn zu seinem Käfig. Man öffnet die Eisentür, und die Beamten sind sichtlich froh, als sie diese wieder verschlossen haben.
    Onoprienko hat wie an den meisten Tagen in der fast vier Monate andauernden Gerichtsverhandlung seine bunte Strickjacke an. Auf dem Kopf trägt er seine Wollmütze.
    Anatolij Onoprienko macht den Eindruck eines Mannes, der so unauffällig ist wie eine graue Maus. Bedächtig nimmt er auf der Holzbank in seinem Käfig Platz. Er nimmt seinen Kopf zwischen die Hände und benimmt sich, als wäre er alleine in dem Saal. Die Zuhörer würdigt er keines Blickes. Ja, fast gelangweilt blickt er zu der Empore, wo in wenigen Minuten seine Richter Platz nehmen werden.
    Ein Fernsehteam nimmt die Gelegenheit wahr, noch einmal mit Onoprienko zu sprechen. Als er die Scheinwerfer bemerkt, hebt er neugierig seinen Kopf.
    Als man ihn fragt: »Anatolij, wollen Sie mit mir sprechen?«, erhellt sich sein Gesichtsausdruck deutlich.
    »Natürlich, warum denn nicht«, antwortet er locker und murmelt ein paar Worte, die niemand verstehen kann.
    »Anatolij, ich habe akustisch nicht mitbekommen, was Sie gerade gemurmelt haben. Wie fühlen Sie sich so kurz vor dem Urteil?«, fragt man den Angeklagten.
    Lässig dreht er sich um, lächelt verschmitzt und antwortet:
    »Ich habe mich im Gefängnis mit Aids angesteckt. Es ist passiert, als ich im Knast geduscht habe.«
    Der Killer der Nation wird wieder einmal zum Schauspieler.
    Er weiß sehr genau, dass seine Tage gezählt sind, an denen er den Journalisten seine Rollen vorspielen kann. Gestenreich und lachend gibt er sich als Clown. Es sind nur noch Minuten bis zur Verkündung des Urteils. Und man kann in seinem Gesicht keine Anspannung erkennen. Er will den Journalisten aus aller Welt nicht vergönnen zu merken, dass ein Anatolij Onoprienko Angst hat. Er gibt sich selbstsicher, so als würde er nur eine Rolle in einem schlechten Film spielen.
    Man lässt nicht locker und fragt nach: »Nein, das glaube ich nicht, hat man Sie im Gefängnis untersucht?«
    Anatolij lächelt und beteuert: »Ja. Man hat bei mir einen Bluttest gemacht.«

    »Haben Sie eine schriftliche Bescheinigung?«, will man wissen, doch man merkt Anatolij an, wie ihn diese Befragung stört. Und doch antwortet er: »Natürlich.«
    So fragt man nach: »Wann war das? Ist das schon lange her?«
    Da hebt Onoprieko nun doch sichtlich genervt den Kopf und schaut spöttisch in die Runde. Nach
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