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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust
Autoren: Robin Schone
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Kapitel 1
    Gabriel kannte die Frau in dem schäbigen Umhang. Er kannte sie, weil er früher so gewesen war wie sie. Durchgefroren. Hungrig. Die perfekte Beute und das perfekte Raubtier.
    Sie kam, um einen Engel zu töten.
    Sie würde die Morgendämmerung nicht erleben.
    Stimmengewirr wehte auf gelbem Dunst und grauem Rauch nach oben. Männer in schwarzen Röcken und weißen Westen und Frauen in schimmernden Gewändern und funkelnden Juwelen bewegten sich in einem Gewirr von Tischen im flackernden Kerzenlicht: standen, saßen, lehnten sich in Mahagonisesseln zurück, beugten sich über weiße Seidentischtücher.
    Sie wussten nicht, dass sie Köder waren, die vornehme englische Gesellschaft, die ihr Vergnügen suchte, und die Londoner Huren, die auf Reichtum aus waren. Sie wussten nicht, dass eine Frau sich an sie heranpirschte; Gabriel bebte am ganzen Körper vor Wissen. Um Lust, um Reichtum.
    Um Leben; um Tod.
    Die Wiedereröffnung des Hauses Gabriel – ein Etablissement, in dem jedes sinnliche Verlangen Befriedigung fand – lockte Freier und Prostituierte an.
    Fleischeslust und Mord. Weißglut schoss auf.
    Zwanzig Fuß unter ihm fing ein Mann seinen Blick ein. Ein Mann, dessen Haar so dunkel war, wie Gabriels blond war. Ein Mann mit violettblauen statt silbergrauen Augen. Seine rechte Wange war von Schatten durchfurcht.
    Siebenundzwanzig Jahre voller Erinnerungen lagen zwischen ihnen. Bilder aus dem kriegshungrigen Frankreich, nicht aus dem winterverhangenen England; Bilder von zwei halb verhungertenDreizehnjährigen, nicht von zwei Vierzigjährigen in maßgeschneiderten schwarzen Fracks mit weißen Westen.
    Meine beiden Engel , hatte Madame gesagt, als sie die beiden von einer Pariser Straße pflückte. Ein Dunkler für die Frauen. Ein Blonder für die Männer .
    Sie hatte sie das Huren gelehrt, und die beiden hatten sich selbst übertroffen. Sie hatte sie die acht Todsünden gelehrt, und die beiden hatten sie begangen.
    Das helle Kerzenlicht verdunkelte sich und erinnerte Gabriel unvermittelt an den Revolver, der schwer in seiner linken Hand lag.
    Michael, der gezeichnete Engel, war gekommen, um Gabriel, den unberührbaren Engel, zu beschützen.
    Ohne ihn wäre Rache nicht möglich. Ohne ihn wäre Rache nicht notwendig.
    Die Frau würde sterben, weil ein dunkelhaariger Engel lebte. Und liebte.
    Ein Puls tätowierte einen unermüdlichen Rhythmus in den Rosenholzgriff: Männer, Frauen; Schmerz, Lust; Leben, Tod.
    Der Adams-Revolver war mit einem Doppelfunktions-Schloss ausgestattet: manuelle Vorspannung für höhere Treffgenauigkeit, Spannabzug für schnelles Feuer. Er konnte den Revolver von Hand spannen. Er konnte abdrücken und einen einzigen, präzisen Schuss abfeuern.
    Eine Kugel würde Michael töten. Eine Kugel würde dem siebenundzwanzigjährigen Kreislauf des Todes ein Ende setzen.
    Gabriel spannte den Revolver nicht. Er konnte Michael nicht töten.
    Der zweite Mann hatte eine Frau geschickt, die zu Ende bringen sollte, was Gabriel vor sechs Monaten nicht geschafft hatte.
    Ein scharfer Knall jagte ihm Schauer über den Rücken. Die Frau blieb am Rand des Kerzenlichts stehen, Michael im Blickfeld. Aus dem rechten Augenwinkel sah Gabriel, wie ein Kellner in kurzem, schwarzem Rock und weißer Weste sich vorbeugte und mit einer weißen Seidenserviette wieder aufrichtete. Unmittelbar unter Gabriel rückten zwei Kellner dichter zu Michael. IhreHände verharrten an ihren Seiten: Sie waren nicht darauf vorbereitet, eine Frau zu erschießen.
    Vier Tische weiter schenkte ein Kellner Champagner aus einer frisch entkorkten Flasche ein, Kristall glitzerte, Flüssigkeit funkelte.
    Noch immer keine Spur von dem zweiten Mann. Aber er war da unten, ein Chamäleon in schwarzem Frack und weißer Weste. Als Freier oder Prostituierter getarnt. Lehnte sich in einem Mahagonisessel zurück oder beugte sich über ein weißes Seidentischtuch.
    Hart. Steif.
    Prall von der Glut der Sinnenlust und dem Prickeln des Mordes. Die Zeit stockte mit Gabriels Herzschlag.
    Die verhüllte Frau nahm die Arme nach vorn, einen matten dunklen Gegenstand in Händen.
    Eine blau plattierte Schusswaffe reflektierte kein Licht. Das wusste Gabriel, weil seine eigene Waffe blau plattiert war.
    Das Dröhnen erotischen Geplänkels verebbte.
    Ihr Kopf war von der Falte einer dunklen Kapuze verdeckt: Gabriel konnte ihr Gesicht nicht sehen.
    Trauer durchzuckte ihn. Um die Männer und Frauen, die gestorben waren; um die Männer und Frauen, die noch sterben
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