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Der Teufel vom Waiga-See

Der Teufel vom Waiga-See

Titel: Der Teufel vom Waiga-See
Autoren: Stefan Wolf
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1. Die Ausreißerin
     
    Beim ersten Mal sah Tim den
Verbrecher nur von hinten. Und wie ein Verbrecher benahm der Mann sich
keineswegs. Mit dieser zufälligen Begegnung kam alles ins Rollen — auch die
Reise zum Waiga-See.
    Mittags kletterte die
Temperatur auf 32 Grad. Es war wenige Tage vor den Sommerferien.
    Nach dem Mittagessen zog Tim in
der Internatsbude ADLERNEST einen frischen Pullover übers T-Shirt.
    Als der TKKG-Häuptling sich mit
einem Striegel durch die braunen Locken fuhr und seine Fingernägel prüfte, hob
Klößchen — der auf dem Bett lag und in einem Krimi-Comic blätterte — den Kopf.
    „Mann, wirfst du dich in
Schale. Was ist denn los?“

    „Erst treffe ich Gaby im
Hauptbahnhof. Dann gehen wir ins Grand-Hotel.“
    „Ich staune. Hauptbahnhof kann
ich ja noch verstehen. Es erweitert den Horizont, wenn man dort rumlungert.
Aber was macht ihr in der Nobelherberge?“
    „Willst du mitkommen?“
    „Bei der Hitze? Nö.“
    „Gaby bringt eine Tante zum
Zug. Gleis 34. Tante Bettina fährt zur Kur. Wegen Augenflimmern und
gelegentlichem Ohrensausen. Isabella Scheidlitz, kurz Isa genannt, leidet
darunter nicht. Eher unter Langeweile. Deshalb reist Isa von einem Grand-Hotel
zum nächsten. Geld hat sie wie Heu. Trotzdem ist sie Muttis beste Freundin.“
    „Von welcher Mutter sprichst
du?“
    „Von meiner — natürlich!“
    „Verstehe! Die reichste
Freundin deiner Mutter befindet sich im hiesigen Grand-Hotel, und du machst ihr
einen Höflichkeits-Besuch.“
    „Jjjein. Es ist mehr ein Zweck-
als ein Höflichkeits-Besuch. Sie bringt nämlich meine Uhr mit.“
    „Ah. Die gute?“
    „Ja, die.“
    Tim besitzt zwei Armbanduhren.
    Die zweite, sehr preiswerte,
mußte er sich notgedrungen kaufen, weil die andere — kostbare die er zu seinem
12. Geburtstag erhalten hatte, kaputt war.
    Während der Osterferien hatte
sie sich geweigert, die Zeit anzugeben. Tim brachte sie — in seinem viele
Bahnstunden entfernten Heimatort — zur Reparatur.
    Dort lag der Chronometer nun
schon seit Monaten. Und jetzt ergab sich für Tims Mutter die Gelegenheit, ihrer
Freundin die Uhr mitzugeben — weil Isabella in die hiesige Großstadt reiste.
    Grund dafür war eine bedeutende
Kunstausstellung. Denn Isa, die seit zwei Jahren verwitwet war, ließ keine —
von Kritikern gelobte — Ausstellung aus.
    „Und was machst du jetzt mit
der da?“
    Klößchen wies auf die Billiguhr
an Tims Handgelenk.
    „Die benutze ich nur noch beim
Sport. Sie geht ja ziemlich genau.“
    Klößchen überlegte. „Werdet ihr
im Grand-Hotel konditern mit Schoko-Torte und so?“
    „Nein.“
    „Also, dann bleibe ich wirklich
hier.“
    Tim nahm ein frisches
Taschentuch und entschloß sich im letzten Moment, auch die Socken zu wechseln.
Was bei Klößchen Kopfschütteln hervorrief.
    Dann sauste Tim die Treppen
hinunter.
    Im Fahrradkeller hatte jemand
verbotenerweise geraucht. Der Pesthauch hing noch in der Luft.
    Tim schnappte seinen Rennesel
und preschte stadtwärts — über die Zubringer-Straße — zum Hbf, wo jetzt —
während der Urlaubszeit — die Reisenden sich selbst und anderen auf die Füße
traten.
    Tim kettete seinen Drahtesel an
eine Lichtpeitsche und betrat die riesige Hbf-Halle durchs Portal, wo
jugendliche Rucksack-Touristen lagerten. Einige sahen so müde aus, als
wünschten sie sich zurück in ihre Heimat: nach Schweden oder Kanada. Ein
Dutzend Fremdsprachen mischte sich in den allgemeinen Lärm.
    Reisen! dachte Tim. Darauf
hätte ich jetzt Lust. Hoffentlich werden das keine trüben Ferien. Während der
ersten beiden Wochen hat Mutti fast gar keine Zeit. Mal sehen, was ich da
anleiern kann — zu Hause.
    Er wühlte sich durch die Menge,
was ohne Gewalt nicht so einfach war.
    Dann bog er ab in die
Laden-Passage, den kürzeren Weg zu Gleis 34.
     
    *
     
    Sah man ihr das schlechte
Gewissen an?
    Thea von Durstilitsch
betrachtete sich im Spiegel.
    Es war der Spiegel der
Bahnhofs-Toilette. Er hatte blinde Flecken und Sprenkel vom Fliegendreck.
Papierhandtücher lagen in einem Abfallkorb. Der Zapfbehälter mit der
Flüssigseife tropfte.
    Mein Gott! dachte Thea. Habe
ich das nötig?
    Draußen in der Bahnhofshalle
dröhnten die Lautsprecher.
    Hier, im Toiletten-Vorraum,
starrte Thea ihr Spiegelbild an.
    Miserabel siehst du aus, dachte
sie.
    Sie fühlte sich wie 100, nicht
wie 14.
    Am 12. Juni war sie 14
geworden. Aber an ihrem Geburtstag hatte es wieder mal Krach gegeben zu Hause.
    Und gestern, dachte Thea, bin
ich ausgerissen.
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