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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Autoren: Rupert Mattgey
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das Ende des Tunnels erreicht. Er drehte den Oberkörper zur Seite, schützte das Kind mit beiden Armen und rammte die Tür mit der rechten Schulter. Das morsche Holz gab protestierend nach, und die Tür wurde mit einem lauten Krachen aus den Angeln gerissen.
    Erik stürzte ins Freie. Er flog durch die Luft, landete auf dem Rücken und rutschte einen steilen Abhang hinunter. Plötzlich war der Boden unter ihm verschwunden, und für einen Moment hatte Erik das Gefühl, durch die Luft zu schweben. Dann schlug er hart auf der gefrorenen Oberfläche des Schwarzsees auf. Schmerz explodierte in seinem Rücken. Das Eis krachte. Risse schossen durch die Eisdecke und breiteten sich sternförmig aus. Schwarzes Wasser quoll darunter hervor.
    Erik presste das Kind fest an sich, kroch von der Aufschlagstelle weg und stand stöhnend auf. Das Kind hatte zu schreien begonnen, doch er fand nicht die Kraft, es zu beruhigen. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, knickten unter ihm weg. Er stürzte zurück aufs Eis. Dann schöpfte er Atem und wartete, bis die Schmerzen nachließen. Schließlich rappelte er sich ächzend auf und kroch langsam auf das Ufer des Sees zu. Das Eis knirschte unter seinem Gewicht.
    Der Sturm brauste durch die Tannen und peitschte Schneekaskaden vor sich her. Mondlicht sickerte durch ein kleines Loch in der Wolkendecke. Zu seiner Rechten konnte Erik die Ruinen des Bergarbeiterdorfs und die Spitze des alten Förderturms über den Baumwipfeln ausmachen. Er zwang sich dazu aufzustehen. Diesmal gehorchten ihm seine Beine, und er lief schwankend aufs Ufer des Schwarzsees zu. Die Risse im Eis folgten ihm flüsternd. Als er das Ufer endlich erreicht hatte, drehte er sich ein letztes Mal um. Niemand folgte ihm. Der Schwarzsee lag still und starr hinter ihm.

Kapitel 53
     
    Er wankte auf das Bergarbeiterdorf zu. In seinem Kopf war eine große Leere, in der ein einziger Gedanke aufleuchtete wie ein Signalfeuer in der Finsternis. Es war der Gedanke an seine Frau Marie, der Gedanke an sein Kind. Er wusste, dass es dieser eine Gedanke war, der ihn bis jetzt am Leben gehalten hatte.
    Er durchquerte die Ruinen und ging auf den Stolleneingang zu. Der Sturm hatte meterhohe Schneewehen zwischen den verfallenen Häusern aufgehäuft. Die Tannen ächzten unter der Last des Schnees und der Gewalt der Windböen. Ein schwacher Lichtschein drang aus dem Stollen. Erik trat zögernd ein.
    Das Heulen des Sturms flaute augenblicklich ab. Verglichen mit den eisigen Minusgraden draußen wirkte die Luft im Stollen beinahe warm. Eriks Inneres verkrampfte sich zu einem steinharten Klumpen, als er die Lichter an der Tunnelwand bemerkte. Im Abstand von zehn Metern hatte jemand die alten Carbidlampen an den Stützstreben entzündet. Der typische, metallische Carbidgestank füllte den Stollen. Warum hatten sie die Lampen angezündet? Weshalb sollten sie durch derartigen Leichtsinn ihr Versteck preisgeben? Ein Schauer strich über seinen Rücken wie ein Windhauch. Er umklammerte das Bolzenschussgerät und vergewisserte sich, dass der Abzugshebel gespannt und der Bolzen in Abschussposition eingerastet war. Dann betrachtete er für einen Moment das Kind in seinen Armen. Es hatte aufgehört zu schreien. Seine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Es träumte.
    „Marie“, flüsterte er. Er stolperte vorwärts, von einer Lichtinsel zur nächsten. Vor der Bretterwand blieb er stehen. Jemand hatte sie niedergerissen. Holzbalken und ellenlange rostige Nägel lagen auf dem Boden verstreut. Erik kletterte zitternd über die Trümmer hinweg.
    Wenige Meter weiter, in der Dunkelheit zwischen zwei Carbidlampen, stolperte er über einen Körper. Erik beugte sich über ihn und betätigte das Zündrad seines Feuerzeugs. Ein Funke sprang in die Finsternis. Das Gesicht des Toten war furchtbar zerschnitten. Eine große Blutlache hatte sich um ihn herum gebildet und war bereits teilweise geronnen. Jemand hatte Karl Wagner den Hals aufgeschlitzt. Das Grauen kam über Erik wie eine riesige schwarze Welle. Sein Sichtfeld begann wieder zu pulsieren, und die Wände des Tunnels stürzten auf ihn ein und zogen sich zurück, sprangen vor und wichen zurück. Die Lichtkreise um die Carbidlampen flimmerten. Ihm war, als würde sein Entsetzen alle Farbe aus der Welt saugen.
    Ein qualvolles Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er sich aufrichtete. Der Stollen führte tiefer in den Berg hinein, und er taumelte von Lichtfleck zu Lichtfleck, halb blind, halb
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