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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Autoren: Rupert Mattgey
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Mann lächelte mitfühlend. „Aber ich spreche nicht von der Hütte am Gletscher. Wir sind uns in einem Schützengraben vor den Toren Münchens begegnet. Ich habe dir den Weg gewiesen.“
    „Sie?“ Erik blinzelte, um seine Sicht zu klären. „Sie waren das?“ Das Bild des deutschen Soldaten tauchte vor seinem inneren Auge auf. Sein Gesicht war schlammverkrustet, der Stahlhelm tief in die Stirn gezogen. Und doch war die Ähnlichkeit unverkennbar. Die hünenhafte Gestalt, die weichen Gesichtszüge, die schwarzen Augen. „Sie waren das?“, wiederholte er benommen.
    „Ja. Du wärst gestorben, hätte ich es nicht getan.“
    „Sie haben meinen Bruder getötet.“
    „Denkst du das, Erik?“ Der Mann ging in die Hocke, bis er auf Augenhöhe mit Erik war. Sein Blick war fest auf ihn gerichtet. „Dein Bruder hatte sein eigenes Schicksal, und er musste es erfüllen. So wie du das deine erfüllen musst.“
    „Blödsinn!“, keuchte Erik.
    „Du hast die Chance, endlich zu vollenden, was dein Vater vor zwölf Jahren begonnen hat. Was er in dem Moment begonnen hat, in dem er entschied, seine Bomben nicht über dem Dorf, sondern über dem Gletscher abzuwerfen. Er brachte sich selbst in Gefahr, um die Menschen von Thannsüß zu retten. Er war ein mutiger Mann. Doch seine Entscheidung konnte den Untergang des Dorfes nicht verhindern, im Gegenteil. Dein Vater hat die Apokalypse heraufbeschworen. Er hat Thannsüß dem Erdboden gleichgemacht.“
    „Mein Vater ist tot!“, keuchte Erik. „Es kümmert mich nicht, was er getan hat!“
    „Ist das wirklich wahr? Spricht er nicht zu dir in deinen Träumen und sogar dann, wenn du nicht träumst?“
    Erik wandte den Blick ab.
    Der Mann erhob sich. „Dein Schicksal ist untrennbar an die Taten deines Vaters geknüpft. Wie der Vater, so der Sohn. Von dem Moment an, als dein Vater seine Bomben über dem Gletscher abgeworfen hat, war dein Weg vorherbestimmt. Glaubst du, es ist ein Zufall, dass wir jetzt aufeinander treffen, hier im Inneren des Berges? Dein ganzes Leben ist auf diesen einen Augenblick zugelaufen. Ich habe dich durch die Schützengräben vor München geführt. Ich war in dem Lazarett, in dem sie dein Bein abschneiden wollten wie den toten Ast eines Baumes, und ich habe es verhindert. Ich stand neben deinem Bett, als du im Halbschlaf die schweren Gedanken in deinem Kopf hin- und hergewälzt hast, weil du dich nicht entscheiden konntest, welchen Beruf du ergreifen solltest, und habe dir ins Ohr geflüstert, dass du ein Lehrer werden möchtest, ein Lehrer! Hast du nicht meinen Atem auf deiner Wange gespürt? Ich wanderte in den Hallen von Sankt Augustin, als dein Weg dort in die richtigen Bahnen gelenkt wurde. Ich war immer bei dir, an jedem Tag deines Lebens. Jede Entscheidung, die du frei zu treffen glaubtest, hatte ich längst für dich getroffen. Dein Weg war eine gerade Linie. Und sie hat dich hierher geführt.“
    „Lüge!“, schrie Erik.
    Der Mann lächelte sanft. „Erinnerst du dich daran, dass ich dir im Bunker sagte, dein Leben sei ein Buch, und du müsstest nur diese eine Seite umschlagen? Deine Geschichte war zu diesem Zeitpunkt längst geschrieben. Inzwischen hast du viele Seiten umgeblättert, doch es war immer die eine Geschichte, die du dort fandest. Deine Geschichte. Du hattest nie eine Wahl. Und jetzt näherst du dich dem Ende dieser Geschichte. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem du dein Schicksal erfüllen musst. Da ist nur noch eine weitere Seite, die du umblättern musst. Beende, was dein Vater begonnen hat!“
    „Was ist passiert in jener Nacht?“, schluchzte Erik.
    Der Mann schüttelte den Kopf. „So viel Schmerz. So viel Leid.“ Tiefe Falten gruben sich in die glatte Haut seiner Stirn. „Sie riefen nach mir. Ich bin gekommen.“
    „Aber es war Krieg!“, schrie Erik. „War da nicht genug zu tun für dich? War da nicht genug Blut und Sterben auf den Schlachtfeldern? Was gab es in Thannsüß für dich?“
    Der Mann sah kummervoll auf ihn herab. „In jener Nacht war die Welt erfüllt vom Wehklagen der Menschen. Der Klang der Natur – ausgelöscht. Das Plätschern des Wassers, das Rascheln der Blätter, das Singen der Vögel – verstummt, fortgespült von den Schreien der Verwundeten. Das Rauschen der Wälder nicht mehr als ein Flüstern gegenüber dem letzten Atem der Sterbenden.“ Der Mann seufzte schwer. „Aber nirgends, nicht in Stalingrad und nicht vor Tobruk, nicht an den Stränden der Normandie und nicht auf den berstenden
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