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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte
Autoren: Emilia Miller
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davor, denn ich wusste, dass mein Vater mich wieder dazu zwingen würde, in das kalte Wasser zu steigen. Ich wollte nicht schwimmen lernen, ich wollte einfach nur in dem warmen Sand sitzen bleiben und den wolkenlosen Himmel beobachten.“ Während er so unbekümmert weiter plauderte, fiel mir auf, dass er mich die ganze Zeit intensiv aus dem Augenwinkel beobachtete. Vermutlich wollte er feststellen, ob sein zwangloses Geplauder irgendwelche Assoziationen oder gar Erinnerungen in mir weckte. „Wenn ich Sie mir so ansehe“, fuhr er locker fort, „glaube ich, dass es Ihnen im Augenblick nicht anders geht. Sie möchten in dem warmen Sand bleiben und fürchten sich vor dem kalten Wasser. Ist es so oder täusche ich mich?“
    „Ich bevorzuge den warmen Sand“, gab ich leise zu und räusperte mich unsicher, während ich feststellte, dass meine Stimme immer klarer wurde.
    „Da haben wir beide etwas gemeinsam“, lächelte er gewinnend. „Es hat eine lange, lange Zeit gedauert, bis ich mich in dem kalten Wasser wohl fühlte. Zu dem Zeitpunkt konnte ich bereits perfekt schwimmen. Diese Tatsache hatte ich vor meinem Vater verschwiegen, weil ich ihn damit überraschen wollte. Ich nahm Schwimmunterricht und wurde immer besser darin. Irgendwann war ich nicht nur gut, sondern so gut, dass ich sogar an einem Schwimmwettbewerb teilnehmen durfte. Ich gewann zwar nicht den ersten Platz, aber immerhin den dritten, den Pokal versteckte ich in meinem Kleiderschrank. Ich wollte ihn meinem Vater zum Geburtstag schenken. Doch der Schuss ging bedauerlicherweise nach hinten los: Er war so enttäuscht darüber, dass ich ihn nicht eingeweiht hatte, dass er meine beachtlichen Fortschritte regelrecht übersah. Er betrachtete den Pokal, den ich ihm stolz überreichte, mit einem skeptischen Blick, bevor er ihn wütend gegen die Wand warf. Ich war elf Jahre alt und erlebte die erste große Enttäuschung meines Lebens.“
    „Wieso erzählen Sie mir davon, Herr Doktor?“, fragte ich und stellte überrascht fest, dass meine Stimme ironisch, fast schon sarkastisch klang. Dabei war ich ihm dafür dankbar, dass er die unliebsamen Erinnerungen seiner Kindheit mit mir teilte. Irgendetwas sagte mir, dass er das nicht bei allen seinen Patenten tat. Ich war etwas ganz Besonderes für ihn, das spürte ich instinktiv. Warum nur?
    Anstatt mir eine plausible Antwort zu geben, räusperte er sich verlegen. Sein schönes Gesicht lief tief rot an.
    „Ich möchte eine persönliche Ebene zwischen uns beiden schaffen“, sagte er schließlich. „Da es mir aufgrund Ihres Gedächtnisverlustes nicht möglich ist, Sie kennen zu lernen, will ich Ihnen ermöglichen, mich besser kennen zu lernen.“
    „Das weiß ich zu schätzen, Doktor“, sagte ich nachdenklich. „Womöglich lerne ich mich selbst dadurch besser kennen. Erzählen Sie weiter!“, forderte ich ihn an, und er ging meiner Aufforderung eifrig nach.
    „Als ich aufs College ging, verbrachte ich meine ersten Ferien am Meer, und zwar zum ersten Mal in meinem Leben im Sommer. In diesem Sommer hatte ich mich in das Meer unsterblich verliebt.“
    „Das Wasser war nicht mehr kalt“, flüsterte ich mit geschlossenen Augen, als ich von einem eigenartigen Gefühl eingeholt wurde. War das der Hauch einer Erinnerung oder lediglich eine Wunschvorstellung? Ich spürte plötzlich das freundlich warme Wasser, das meinen nackten Körper umschmeichelte und roch die frische Meeresluft, eine zarte Luftbrise spielte mit meinen Haaren. Starke Arme hoben mich an der Taille hoch und schwangen mich durch die Wellen: „Das machst du gut, Liebling!“, hörte ich eine tiefe, sanfte Stimme, „halt dich an mir fest!“
    „Haben Sie sich gerade an etwas erinnert?“, fragte der Arzt hoffnungsvoll.
    „Nein“, log ich, „ich stellte mir bloß vor, wie sich das warme Meereswasser anfühlen muss.“ Ich wusste nicht, aus welchem Grund ich ihn angelogen hatte, irgendetwas, was tief in meinem schlafenden Bewusstsein verborgen lag, hinderte mich daran, ihm die Wahrheit zu sagen. Wie eine Warnglocke, deren Klang sich aus den Abgründen meiner Seele mühsam bis zu meinem Trommelfell durchkämpfte, um schließlich so laut zu schlagen, dass es beinahe wehtat.
    „Es fühlt sich herrlich an“, sagte er leise. „Aber nun sollte ich mich endlich vorstellen. Mein Name ist Ryan Boyle, ich bin sowohl Ihr behandelnder Arzt als auch Ihr psychologischer Gutachter. Dieses Konzept hatte ich in den letzten Jahren entwickelt und unzählige
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