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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte
Autoren: Emilia Miller
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unwillkürlich zusammen.
    „Sie können sich entspannen, die Luft ist rein“, tätschelte der Arzt meinen Arm. Seine Stimme klang so sanft und angenehm wie der leichte Herbstwind, der aus dem halb geöffneten Fenster kam und zart meine erhitzten Wangen und meine glühende Stirn liebkoste. Endlich traute ich mich, die Augen aufzumachen und blickte in sein junges, attraktives Gesicht mit schmaler, gerader Nase, schön ausgeprägten Wangenknochen und warmen dunkelbraunen Augen. Er war höchstens Mitte dreißig, seine Haut war glatt und gepflegt, und es fiel mir auf, dass seine Augenbrauen sorgfältig in eine schöne Form gezupft waren, was jedoch seine überaus männlichen Gesichtszüge nur noch mehr zur Geltung brachte. „Sie haben sehr, sehr lange geschlafen, meine Liebe“, sagte er und erkundigte sich besorgt: „Können Sie alles, was ich sage, verstehen?“ Als ich ihm die Antwort schuldig blieb, fragte er etwas langsamer: „Verstehen Sie unsere Sprache?“ Ich schwieg und betrachtete seine Hand, die immer noch auf meinem Arm ruhte. Sie fühlte sich angenehm warm und trocken an, seine Fingernägel waren sauber und gepflegt. Das ist die Hand eines Mannes, der nie schwer körperlich arbeiten musste, dachte ich. Ein Sohn aus dem guten Hause, dem das Leben bis jetzt immer freundlich gesinnt war, was man von meinem Leben anscheinend nicht behaupten konnte. Es sei denn, ich wurde das Opfer eines Missverständnisses, oder gar einer Intrige? Oder ich war tatsächlich eine eiskalte Mörderin, die einen Mann gefoltert und getötet und etwas Unaussprechliches mit seinen Genitalien angestellt hatte.
    „So etwas tun gute Mädchen nicht!“, hörte ich plötzlich und sah mich ängstlich um, um das kleine Zimmer nach der Quelle dieser lauten, vorwurfsvollen Stimme abzusuchen, bis ich endlich feststellte, dass sie lediglich in meinem Kopf existierte. Herzlichen Glückwunsch, dachte ich, nun hörst du auch noch Stimmen. Es wird immer besser!
    „Geht es Ihnen gut?“, fragte der Arzt. Das ganze Zimmer fing an, sich vor meinen Augen zu drehen, und ich senkte meinen Oberkörper wieder aufs Bett. Das Kissen unter meinem Kopf fühlte sich weich und einladend ein, und ich dachte, dass es womöglich eine gute Idee wäre, einfach nur zu sterben. Gleich auf der Stelle schön gemütlich ab zukratzen, bevor ich das Geheimnis meiner Identität lüften konnte. Derweil bemühte sich der Arzt weiterhin um eine Konversation: „Parlez-vous francais? Hablas espanol? Parli italiano?“
    So ein attraktiver Mann und so gebildet, dachte ich. Unter anderen Umständen wäre er wohl das, was man als eine gute Partie bezeichnet e.
    „ Polski? Russki?“, bemühte er sich krampfhaft.
    „Ich weiß nicht, wer ich bin“, sagte ich schließlich, und wir zuckten beide erschrocken zusammen. Ich lauschte dem fremden Klang meiner Stimme. Das war also meine Stimme? Nicht schlecht! Nicht zu hoch und nicht zu tief, nicht zu laut und nicht zu leise, wenngleich noch etwas heiser. Melodisch und ausdruckstark. Ich musste sie gleich nochmal ausprobieren: „Ich kann Sie verstehen, Doktor.“
    Er erholte sich schnell von seinem Schock: „Da bin ich aber froh!“ Danach tat er so, als führten wir eine ganz normale Unterhaltung, wie zwei Fremde, die sich zufällig in einem Café begegneten: „Diese herbstliche Luft ist wirklich angenehm, nicht wahr? Schön warm und frisch, dieses Jahr möchte sich der Sommer wohl nicht so schnell von uns verabschieden. Ich mag den Sommer, Sie nicht auch?“
    „Ich weiß nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    „Ich liebe die Wärme und den hellblauen, wolkenlosen Himmel“, schwärmte er, „aber vor allem liebe ich das warme Meereswasser. Ich bin ein passionierter Schwimmer. Als Kind hatte ich Angst vor dem Meer, und meine Eltern mussten mich regelrecht dazu zwingen, hineinzugehen. Ich weiß noch, wie ich um mein Leben schrie, als mein Vater mich gewaltsam hinter sich her ins Wasser zog. Die anderen Strandbesucher starrten uns entsetzt an, meiner Mutter war es äußerst peinlich. Aber meinen Vater schien es nicht zu kümmern, er schmiss mich buchstäblich ins kalte Wasser. Es war Anfang September, genau wie jetzt, und das Wasser war tatsächlich recht kalt. Meine Eltern waren beide berufstätig und vielbeschäftigt, beide Ärzte, beide Professoren. Die einzige Auszeit, die sie sich gönnten, waren zwei erste Septemberwochen, und zwar jedes Jahr. Während sie sich das ganze Jahr lang darauf freuten, fürchtete ich mich
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