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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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ihre Handschrift, in einem Zug liest er ihn durch, doch wieder hat er nichts entziffert, er liest ihn wieder und wieder – und kann nichts entziffern. Sofort eilt er nach Haus, setzt sich hin und wirft hastig eine Antwort aufs Papier. Und nun – mein Gott! wie das geschrieben ist! – türmen sich die Wörter, raucht die Tinte, läuft der Text, den er mit Leidenschaft aufs Papier wirft, aber am Ende jeder Zeile verschwindet der Text, die Leidenschaft hängt in der Luft, verliert sich, ohne abzureißen, jenseits der Seitenränder, und anstelle des gerade gesagten Satzes erscheint etwas ganz anderes auf dem Papier, irgendwas über Tante Klara und ihren Papagei … Völlig entkräftet heult der arme Urbino, seine Tränen schwemmen Tante Klara weg, und als er, wieder getröstet, seinen durchsichtigen, durchgespülten Kopf hebt, da gewinnt er Kraft und Reaktionsvermögen zurück und schreibt den Brief nun ruhig und rasch, geschäftig, in Wirklichkeit zieht er nur Wellenlinien, wie Kinder das Meer malen … Da kommt ein Nachbar zu ihm, sie diskutieren ein lange anstehendes Geschäft, treffen eine sehr vernünftige Absprache und fahren in die Stadt Taunus. Und das ist dermaßen geschrieben – jedesmal habe ich versucht, diesen Übergang mitzubekommen und bekam ihn nicht mit –, dass diese Stelle dann auch gar nicht mehr im Buch war, ich konnte noch so viel blättern …
    Auch jetzt kam es mir vor, als stünde ich am Rand seines Wahnsinns und als geriete dieser so fließend, so unmerklich
und unaufhaltsam, so schwindelerregend ins Rotieren – ein Trichter, durch den das Bewusstsein abfließt, wie im Sand versickert –, so dass man gar nicht merkt, wie man über eine sinnbetäubende mathematische Kurve gleitet und an der inneren Oberfläche der Phänomene landet, und schon schaut man hinaus von dort, von wo es keine Rückkehr mehr gibt …
    »Ja, ja, verstehe, jener Himmel …«, sagte ich, im Blick gleichsam auf dem Rückzug.
    Der Alte griente:
    »Ich habe durchaus reale Gründe, um zu glauben, dass dem so ist. Sie sind noch jung … Außerdem, bedeckt nicht ein und derselbe Himmel jenes Troja wie dieses, uns wie die nach uns … Damit Sie zumindest metaphorisch …«
    »Das ist wahr!« Ich nickte freudig, beruhigt über Vanoskis Rückkehr in eine für uns akzeptable logische Reihe.
    »Schon interessant, weshalb Ihnen Abstraktion, Bild, Metapher aufgrund ihrer Entfernung als Annäherung an die Wahrheit erscheinen, hingegen die Realität, wie sie uns umfängt, als sinnlos, als verunreinigt mit Überflüssigem, gleichsam als unzureichend verallgemeinert und abstrakt und infolgedessen als nicht wahr. Alles verkehrt herum! Wohl kaum ist es für Sie an der Zeit, das zu begreifen. Ich kann Sie nur vorwarnen, auch das offenbar umsonst … Wohl kaum wird Ihnen meine persönliche Erfahrung von Nutzen sein, überhaupt ist Erfahrung nicht von Nutzen. Und wohl kaum wird Ihnen eine so offene Form des Schicksals zufallen … Jedenfalls, eines rate ich Ihnen: Gehen Sie niemals auf irgendwelche verführerischen Vorschläge ein, Sie sind ein vertrauensseliger und uneigennütziger Mensch (auf die erste Charakteristik zuckte ich zusammen und wollte schon beleidigt sein, auf die zweite nickte ich zustimmend und entspannt), darum nehmen Sie jeglichen Vorschlag stets als Geschenk an, oder als Abenteuer, oder als Schicksal, Sie stürzen sich darauf wie ein Mensch, der nichts zu erwarten hat, nie genug abkriegt. Weisen Sie jeden Vorschlag zurück – er ist immer des Teufels. Deshalb auch ist das der Himmel des echten Troja …«
    Hier nun sagte er den Satz über den glatzköpfigen Dicken im
Garden Park, und zum soundsovielten Mal verstand ich ihn nicht. Hier nun sagte er, Davonjagen sei die beste Philosophie, nach einem entsprechend schwermütigen Blick, dass er es wieder einmal nicht getan hatte …
    »Sie wollen etwas von mir, doch in Wirklichkeit brauchen Sie mich überhaupt nicht, was Sie dringend brauchen, ist etwas, das Sie an meiner Statt vermuten. Alle sind heute Vergewaltiger der Realität, Praktikanten des Progresses … Denken Sie deshalb ruhig, es gäbe mich nicht. Aber insofern Sie von mir, wenn auch nicht von mir, etwas brauchen – und ich habe ebendarum alles Leben um mich verbannt, weil ich es stets für meine Pflicht hielt, darauf zu reagieren –, halte ich mich auch jetzt für verpflichtet zu einer Reaktion, insofern Sie das Leben sind, und nun sind Sie hier. Aber weil nicht ich Sie interessiere,
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