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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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selbst aus, aber nun fast liebevoll. ›Werden Sie nicht wütend, gleich habe ich es …‹
    Er wühlte endlos in seiner Mappe, zog dicke Bündel von Photos unterschiedlichen Formats und Alters hervor; sie sahen aus wie von Hobbyphotographen oder aus Familienalben geklaut, unter- und überbelichtet, mit Schlieren vom Entwickler, ausfransenden Leimflecken und abgerissenen Ecken.
    ›Wo steckt es bloß?‹ Ein seltenes Sortiment der Ungeschicklichkeit zog an meinen Augen vorüber: mal ein Klient ohne Kopf, aber in Ritterrüstung, mal eine einzelne Hand mit einem Glas, mal ein Strauch, daran ein verwackelter Zweig, als hätte ein Vögelchen photographiert werden sollen, sei jedoch davongeflogen. ›Sie beobachten sehr gut‹, sagte er, während er weitersuchte, ›darum habe ich mich eigentlich auch zu Ihnen gesetzt. Sehr selten, dass jemand auf diesem Photo gleich das Vögelchen findet. Dafür muss man zum Dichter geboren sein! Und das kommt drei- bis viermal pro Jahrhundert vor. Jemand wie Sie oder wie … Aber Sie sind ja kein Freund der Lake Poets.
Dabei war ebendieses Vögelchen die Inspiration für … Sei's drum, das gehört nicht hierher. Was ich Ihnen sagen wollte: Das sind alles zufällige Abzüge, ganz sinnlose, ohne Bedeutung. Hier zum Beispiel, das ist Shakespeare. Und zwar keineswegs, während er den Monolog ›Sein oder Nichtsein‹ verfasst, auch nicht beim Rendezvous mit der Dark Lady, auch nicht bei einer Begegnung mit Francis Bacon – da ist er müde nach der Aufführung …‹ Auf dem Photo stand eine große Porzellanschüssel mit angeschlagenem Rand, eine tatsächlich altmodische, heraus ragten jedoch zwei normale nackte Beine, ob nun krumm geformt oder krumm hineingestellt, und ein Zeh war so vorgestreckt, als würden die Zehen spielen dort in der Schüssel, und aus der rechten Ecke des Photos ergoss sich ein Wasserstrahl in die Schüssel – das war's. ›Nein, ich bin weder verrückt noch Photograph, noch Phantast – all das nicht, was Sie jetzt nacheinander geargwöhnt haben, weit unter den Möglichkeiten Ihrer eigenen Phantasie. Was ich in Händen halte, sind alles historische Originale, ob Sie es glauben oder nicht … Dieser Gedanke von Ihnen ist allerdings wunderbar: Wieso eine historische Tatsache eigentlich exakter oder attraktiver aussehen solle als das, was ich in Händen halte. Die Geschichte läuft immer vor unseren Augen ab, da muss ich Ihnen recht geben …‹ Wirklich, er erriet mit Leichtigkeit alle meine Gedanken, und zwar traf er genau den Moment, wenn ich ihn entweder endgültig in die Schranken weisen oder einfach aufstehen und gehen wollte, um seine unerträgliche Aufdringlichkeit zu unterbinden. Aber seine Perspektive, die Sie in späterer Zeit als Großaufnahme bezeichnen sollten, kam mir aus dichterischer Sicht geradezu spannend vor – schwindelerregend leicht drängten dichterische Zeilen ins Freie: der Schmutz unter den Hufen vom Heer Alexanders des Großen, die Wellen, die über der ›Titanic‹ zusammengeschlagen, die Wolken, die über Homer dahingezogen waren … Was wusste der Schmutz vom siegreichen Huf? was kümmerten das Wasser die Schätze der spanischen Armada? was den Himmel Gedichtzeilen? ›Die Bodenritze, daher dringt das Licht‹, murmelte er für sich, doch im selben Moment wie ich die Zeile, die mir
soeben durch den Sinn fuhr. ›Nicht schlecht, nicht schlecht … Sehen Sie, gerade Ihnen konnte ich durchaus Vertrauen schenken. In unserer Zeit womöglich nur Ihnen … Nein, das ist keine Schmeichelei, ich bin auch kein Medium und kein Gauner. Ehrlich gesagt, was ist da schon Besonderes, ganz gleich in welchem Kopf, dass es als wunder was gilt, das zu erraten? und dann, urteilen Sie selbst, was hätte ich davon? einen vertrauensseligen Kopf zu nasführen rein aus Liebe zur eigenen Kunst? Eine Überlegung wäre das schon wert, aber so kleinkrämerisch bin ich nicht in meiner Eitelkeit. Es gibt ja auch unspektakulärere, wenn auch weniger romantische Erklärungen als unbedingt Mephisto oder Cagliostro. Derzeit ist Science-fiction bei Ihnen in Mode, Herbert Wells zum Beispiel, ›Die Zeitmaschine‹ … Nein, da sind Sie Ihrer Jugend wegen zu streng, sein Stil ist so schlecht nicht; ich würde sogar sagen: gerade der Beigeschmack des Englischen ist angenehm. Heute eine Seltenheit. So ein kindliches Vergnügen … Kein Dickens natürlich. Also, wissen Sie, Sie entschuldigen schon, aber auch wir beide sind keine Dickense. Wieso eine Frechheit,
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