Der Symmetrielehrer
den Namen Helena verpasste, zunächst aber nur dieser unplausiblen Wolken wegen. So, wie ich jetzt zu Ihnen spreche, dachte ich damals nicht. Weder über die ›Ilias‹ noch über die ›Odyssee‹. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Krieg schon verloren war, dass ich schon auf dem Schiff fuhr … Ist es nicht merkwürdig, dass wir beide Wolken sehen, die Homer nicht gesehen hat? Haben Sie sich mal vorgestellt, Sie wären blind? Jeder hat sich das vorgestellt … Was sieht ein Blinder vor sich? Nacht? Nein, endlose Wogen.«
Vanoskis Gesicht wurde blind, ich saß nicht mehr vor ihm, mir war sogar, als sähe ich in seinem Blick Wogen, aber das war Furcht: Erneut starrte er auf den albernen weißen Knopf an der Wand. Hatte er vor ihm Angst oder davor, dass ich ihn frage, wozu er diene? Jedenfalls, nach diesem Knopf wollte ich ihn gerade fragen, und gerade da – unterbrach er mich:
»Sie fragen, was danach kam?« Ich hatte nicht gefragt, und er hatte nicht die geringste Lust fortzufahren. »Danach lief al
les ganz schlicht und viel zu präzise ab. Wie nach Noten. Nein, ich verliebte mich nicht gleich in sie. Ich bin kein Soldat, um mich in ein Photo zu verlieben. Zudem war ich schon verliebt. Und ich grinste über mich selbst mit jenem Grinsen der Jugend, mit dem sie sich von der Verlegenheit befreit, es könnte jemand ihre Unbeholfenheit bemerken. Niemand hatte sie bemerkt. So schüttelte ich die Sinnestäuschung ab als etwas, das nicht zu meinem wunderbaren, geschmeidigen Leben gehörte und darum gar nicht existierte, ich schob die ›Wolken‹ zwischen meine Vorlesungsmitschriften und eilte dorthin, wohin ich von Anfang an gewollt hatte, bloß war ich zu zeitig zum Rendezvous aufgebrochen, weshalb ich auch auf dieser verfluchten Bank gelandet war – ich eilte zu meiner Dika. Sie hieß Eurydika, nur ich nannte sie so. Nein, sie war noch nicht die Meine … Sie finden, das sei zuviel Griechenland? Ihr Vater war aber tatsächlich Grieche, obwohl sie sich nicht an ihn erinnerte, auch an die Heimat nicht, da sie ihr Leben lang mit der Mutter in Paris gelebt hatte, wie auch ich mich weder an den Vater noch an mein Polen erinnerte. Jetzt waren wir beide zweifelhafte Engländer. Das verband uns. Wir studierten an derselben Fakultät. Sie länger, ich kürzer. Sie war jünger als ich, hatte mich in der Wissenschaft aber stark überholt, während ich meine Kräfte an der Dichtung versucht hatte, und jetzt gab sie mir Nachhilfe in der Geschichte der Dichtung, damit ich den Übergang ins nächste Studienjahr schaffte. Es gefiel ihr, mich zu lehren, und mir gefiel es, schlecht bei ihr zu lernen, unsere Wissenschaft entwickelte sich langsam – wir küssten uns bereits. Oh, wir hatten damals sehr viel Zeit!
Und jetzt, ein halbes Jahrhundert später, da ich nichts brauche außer Ruhe, bin ich der Ansicht, dass es das Glück dennoch gibt, ab und zu. Denn es war ja da! Es gab diese endlose Zeit, als wir in Eurydikas Zimmerchen über den Mitschriften saßen. Sie begann nicht, diese Zeit, sie endete nicht – sie war, sie lebte in dieser Wohnung wie eine Katze, die sich heimisch fühlt, und wollte gar nicht fort. Für die Lake Poets hatte ich tatsächlich nicht viel übrig, ich weiß noch, damit plagten wir uns besonders lange – niemand hatte süßere Lippen! Hätten wir damals
bloß gewusst, wie uns das gefiel! Sie hatte die allerkleinste Wohnung gemietet, die ich je gesehen habe. Ob Sie es glauben oder nicht, sie war halb so groß wie meine Hundehütte! Die Wohnung lag neben der Schule, die ich besucht hatte, und mir kam es schon vor, als wären wir zusammen aufgewachsen. Wir riefen uns Schulspiele ins Gedächtnis, Kreis und Kreuz, Galgenmännchen oder Schiffe versenken, und spielten bis nach Mitternacht. ›Schlafen! Schlafen!‹ schrie ihr geliebter Papagei Jacquot. ›Wie kommt er bloß hierher?‹ wunderte ich mich. ›Wie findet er hier noch Platz?‹ Das Zimmerchen war vollgestopft mit Büchern einer mir unerreichbaren Gelehrsamkeit und mit Souvenirs einer unvorstellbaren Naivität. Und alles fiel ständig herunter! Ich wollte es rasch aufheben, sie schob mich weg, weil ich es ja nur durcheinanderbrächte; wir rutschten auf Knien, um es aufzusammeln, dabei – wo denn! Zwischen Tisch und Sofa war überhaupt kein Platz, um zu zweit auf Knien zu rutschen, wir stießen mit den Stirnen zusammen. So hatten wir uns auch das erste Mal küssen müssen …«
Vanoski war von Rührung ergriffen, und mir war es peinlich,
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