Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
meine Jugend zu spüren, die Frische der gestrigen Küsse auf meinen Lippen, wenn ich seine kindliche Begeisterung sah.
    »Gelehrtheit und Zärtlichkeit«, stammelte er. »Oh, sie war der bezauberndste Blaustrumpf, der je existiert hat. Blaues mochte sie übrigens nicht, sie mochte alles Rote, lockere Blusen, lange Röcke … Glasperlen, Armreifen, zu Hause trug sie sogar welche an den Füßen. Kniend hob ich Bücher vom Boden auf, von deren Titeln sich mir bereits die Wangenmuskeln verkrampften, und ich mochte sie alle, wenn auch in geschlossenem Zustand; ich hob die heruntergefallenen Bücher auf, abwechselnd mit Kastagnetten, Bastschuhen, afrikanischen Masken, Teebüchsen, Ansichtskarten mit Glückwünschen, die sie zu gerne aus aller Welt bekam, ohne Anlass, ihre endlosen Photographien, auf die sie großen Wert legte, weil sie sich für photogen hielt und offenbar meinte, sie sähe darauf besser aus als in Wirklichkeit – wie sie sich irrte! ich klaubte alles auf und ließ erneut alles umfallen, zog wie absichtslos einen Band aus einem Stapel, um den nächsten Bergsturz aus
zulösen … im letzten Augenblick riss sie sich dennoch los, über und über rot, hübsch bis zum Gehtnichtmehr im Triumph ihrer Verlegenheit, und ging daran, uns Kaffee zu kochen. Den kochte sie auf einem Spirituskocher, in einem ausgefallenen Töpfchen, keinem griechischen, seltsamerweise einem türkischen, ich schlich mich von hinten an – der Kaffee lief ihr natürlich über, sie war deshalb furchtbar böse auf mich, denn ihr Geheimnis, wie sie Kaffee kochte, war ihr besonderer Stolz, dabei kochte sie ihn schlecht.
    Sie empfing mich jedesmal ganz etepetete, wir waren weiterhin per Sie; die Bücher waren in akkuraten Stapeln bis zur Decke aufgeschichtet, bereit zum nächsten Einsturz. Wir nahmen gesittet am Schreibtisch Platz, er war im übrigen zugleich der Esstisch.
    ›Was haben Sie da für Steine?‹ fragte sie, als sie meine Mitschriften aufschlug. Hatte ich völlig vergessen!
    ›Das sind keine Steine. Das sind Wolken.‹
    Ich wollte ihr die Episode im Park erzählen – und konnte es nicht. Vor meinen Augen tauchte eine andere Photographie auf, und ich sah mich erneut am Gesicht der Unbekannten fest.
    ›Holla!‹ Eurydika störte mich auf. ›Wo sind Sie?‹
    ›Ah, Sie meinen diese Photographie‹, sagte ich und wurde plötzlich quälend rot. ›Das ist übrigens Ihre Heimat. Eine Ansicht des Himmels über Troja.‹
    ›Sie sind tatsächlich ein Dichter‹, sagte Eurydika nachdenklich. ›Haben Sie die – mir mitgebracht?‹
    ›Ihnen, wem sonst‹, bestätigte ich eilends. Ja, sie war es, die den Bilderrahmen dafür besorgt hat … So begann alles. Vielmehr, so war alles schon damals zu Ende.
    In Wirklichkeit glauben wir am leichtesten an das, was nicht sein kann. Bluff, Absurdität, Wahnwitz … und dann Trugbild, Vision, Versuchung. Im selben Augenblick strich ich die alberne Episode im Park als nicht existent, als nicht gewesen, und im selben Augenblick glaubte ich vorbehaltslos an die Echtheit der mir gezeigten Photographie. Die Wolken mochten nicht die damaligen Wolken sein, aber ich hatte mich im Schaufenster gespiegelt, und derjenige, dessen Spiegelbild im Schau
fenster gewesen war, war auch ich gewesen. Folglich war diejenige, deren Spiegelbild im Schaufenster gewesen war, auch diejenige, die ich erblickt hatte. Und das war nun bereits SIE . Denn ich war zweifellos ich. Je länger ich die Photographie betrachtete (und sie war quasi wie auf einem Bildschirm an der Innenwand meiner Stirn aufgeklebt), desto weniger konnte es Zweifel geben. Eigentlich gab es gleich keine Spur mehr davon … Das war ich, um die sieben Jahre älter, und im Prinzip gefiel ich mir als mögliches Objekt der Begierde: In diesen sieben Jahren hatte ich einen mir noch unbekannten, doch offensichtlichen Weg zurückgelegt und hatte bereits ein Gesicht, kein nettes lebhaftes Frätzchen mehr, das wer weiß wem gefiel, bloß mir nicht. Besonders imponierte mir das bis zu der Zeit wohlerworbene Eingefallensein der Wangen und der winzige Anflug von grauem Haar. Es ist dies nichts Neues, aber eine Tatsache: Unserem Ende stürmen wir am heftigsten in der Jugend entgegen, da auch legen wir in kürzester Zeit den Hauptteil der Strecke zum Tod zurück, dann jedoch, eben vor dem Tod, zaudern wir mit all unseren Gebrechen – aber was sind schon unsere greisenhaften Bremsen gegen die Beharrungskraft des einmal gewählten Jugendtempos! Also, auf der

Weitere Kostenlose Bücher