Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
wo es die Wahrheit ist … Obwohl, da haben Sie recht, in der Wahrheit schwingt immer ein klein bisschen schlechter Ton mit. Weil nun mal nicht jeder das Recht hat, obwohl, andrerseits hat auch nicht jeder die Gabe … Schauen Sie sich lieber das an, hochinteressante Aufnahme: das Kistchen mit dem Kopf von Maria Stuart. Für die Echtheit verbürge ich mich. Sowohl des Kistchens wie des Kopfes. Ach woher, das ist nicht einfach das Kistchen vom Kopf. Der Kopf war in dem Moment, als das photographiert wurde, da drin. Gut, gut, seien Sie doch nicht so wütend. Stellen Sie sich zumindest mal nach Art der armseligen Phantasie Ihres ungeliebten Wells vor, so etwas wäre möglich, ich wäre der Erfinder einer derartigen Maschine … Wissen Sie etwa, auf was für Schwierigkeiten einer stößt, bis er irgendwas Gescheites zustande bringt? Hat kein Material, keine Mittel, soll die Wohnung räumen, für den ersten Flug kann er sich keinen anständigen Photoapparat und noch nicht mal einen schlichten kaufen, ach was, nicht mal für ein Sandwich für unterwegs hat er das Geld! … Na endlich! Bloß, ich
warne Sie … Nein, das werde ich Ihnen besser nicht zeigen, das sollte ich nicht, Sie würden es doch bloß wieder falsch verstehen …‹
    Und er versuchte, mir das Photo aus der Hand zu reißen, aber ich war nun ernsthaft wütend, ich hätte diesen unflätigen Gentleman schon verprügeln können.
    ›Also, das ist unnötig, das ist unnötig, junger Mann! Sonst könnte ich es Ihnen doch nicht zeigen. Aber meinetwegen, meinem Versprechen bleibe ich treu, wenn Sie mich zur Abwechslung einmal anhören und sich einprägen wollten, was ich sage. Sie müssen mir auch unbedingt Glauben schenken. Ich schwöre, weiß gar nicht, bei wem, so sehr verwerfen Sie alles von mir, ich schwöre, dass ich Sie nicht täuschen werde. Jetzt habe ich Ihre Photographie in Händen. Aus Ihrer Zukunft, einer gar nicht so fernen. Von wann? Ich weiß es, aber das sage ich Ihnen nicht, sonst werden Sie drauf warten, und ich möchte Ihnen Ihre Zukunft nicht verderben – Sie haben nämlich eine. Ich kenne sowohl das Jahr wie den Tag. Was heißt – wann? was seid ihr jungen Leute doch ungeduldig! Na, nicht in fünf … Sie sind jetzt fast einundzwanzig. Sie träumen von Liebe und von Ruhm. Oh, ich weiß, welcher Art! erste Sahne! Haben Sie auch das Recht dazu, mehr noch: Sie haben diese Möglichkeiten und werden sie haben. Doch auch nicht in zehn … Aber nein, nicht vom Erfolg rede ich, von dem Bildchen da. Also, es ist genauso zufällig und unsinnig wie alle Photos, die Sie bei mir gesehen haben. Es ist ebenso echt, doch absolut zufällig. Sie dürfen mich für einen Verehrer der Dichtkunst halten, der es sich nicht versagen konnte, Sie so festzuhalten, wie Sie erst noch sein werden. Na schön, halten Sie mal. Bloß, schreiben Sie es sich hinter die Ohren, das ist ein zufälliger Moment, keineswegs ein Faktum Ihrer Biographie. Einfach, um Sie zu amüsieren …‹
    Aber ich hörte seine Ermahnungen nicht mehr. Ich starrte auf diese Aufnahme, eine diesmal weit deutlichere als bei Shakespeares Beinen oder dem Vögelchen der Lake Poets. Mich schaute unverwandt das in einem Schaufenster gespiegelte Gesicht eines unbekannten jungen Mannes an; er war
an die zehn Jahre älter als ich, vielleicht sogar weniger, sah nur viel männlicher aus. Sein Gesicht war sympathisch, aber dermaßen von Leid und Erschütterung verzerrt, wie man das selten auf Menschengesichtern antrifft und noch seltener festgehalten sieht. Eine derartige Maske ließe sich in mythischen Plots finden, wenn der Held, mit einem Ungeheuer konfrontiert, zu Stein wird; vielleicht hatte die Meduse ein derartiges Gesicht, als sie ihr eigenes Spiegelbild erblickte. Jedenfalls, dieses Spiegelbild bestürzte, obgleich es sich im Schaufenster eines gewöhnlichen Konfektionsgeschäfts zwischen zwei Schaufensterpuppen befand, einer männlichen und einer weiblichen, die einander entgegenzugehen, schon fast die Hände auszustrecken schienen – aber zwischen ihnen war etwas Entsetzliches, und eben das hatte ER , der sich spiegelte, erblickt. ER , der sich spiegelte, hatte SIE erblickte. SIE jedoch konnte derartiges Entsetzen gar nicht hervorrufen. Sie hatte gar nichts derart Entsetzliches an sich. Und Nichtentsetzliches auch nicht. Erschüttert sein kann man ja auch von Schönheit. Jedenfalls steht das so in Büchern. Nichts dergleichen. Bleiche Motte, sagte ich mir sofort. Konnte aber die Augen nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher