Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
über dem Kopf des Alten, war sie eine Art Dekoration – ein zweites Fensterchen, durch das ich schaute, während der Alte mir gegenübersaß, folglich durch das richtige Fenster schaute. Diese Photographie konnte mir zusätzlich als Beweis für die Schrulligkeit des Genies dienen: überm Bett die Aussicht aus dem eigenen Fenster aufzuhängen, durch das wiederum nichts zu sehen ist außer einem Fetzchen Himmel! Unterhalb der Photographie war ein Metalltäfelchen, darauf eine verschnörkelt eingravierte Inschrift wie auf einem Türschild – ich dachte noch feixend: Sollte auch diese klägliche Photoarbeit einen eitlen Urheber haben? Der zweite Gegenstand, der mich gar nicht interessiert hätte, wäre nicht das Verhalten des Alten gewesen, war so etwas wie ein Klingelknopf, ebenfalls überm Bett angebracht, doch etwas tiefer als das »Bild«. Dieser Knopf lag unter Putz, so dass allein die Wölbung vorstand, rund, glatt, weiß und für einen Klingelknopf zu breit. Offenbar war die Anlage erst kürzlich eingerichtet worden, denn der graue Zementfleck ringsherum war noch nicht ganz trocken. Und zu diesem Knopf schielte bisweilen, gleichsam erschrocken, der Alte, suchte aber seinen Schrecken vor mir zu verbergen, indem er ungeschickt so tat, als wäre sein Blick zufällig darauf gefallen. Den Knopf konnte ich mir leicht erklären, nämlich dass eine Anlage angebracht worden war, um den Alten zum Aufzug zu rufen, und dass er hinschielte, deutete ich ebenfalls als Verängstigung des Unglücklichen, als Unterlegenheitsgefühl.
    »Der Chef wird Sie heute nicht mehr behelligen«, sagte ich
so sanft wie möglich zu ihm, damit ihn zumindest der Knopf nicht nervös machte; ohnehin war mir die Hoffnung fast vergangen, ich könnte ihm noch etwas Verwertbares entlocken.  
    »Seien Sie bedankt, das habe ich begriffen«, sagte der Alte. Trotz allem, er war erstaunlich, dieser dem Gesicht eingepasste Blick! Und ich dachte: Wie ist doch die Wahrnehmung sozial vorbestimmt! ich wusste nur zu gut, wen ich suchte, solange ich suchte … und vergaß es völlig, als ich gefunden hatte! In dieser Hundehütte hatte ich ihm ein Maß an Verständnis zugebilligt, wie es die unterste Stufe der sozialen Leiter nahelegt. Mein Gott! wenn er Derartiges geschrieben hat, wie hat er dann alles gesehen und mich gesehen, die ganze Zeit! Mir wurde dermaßen peinlich zumute ob meiner Herablassung und Gönnerhaftigkeit, dass ich verwirrt vom Stuhl aufsprang, und um die heftige Bewegung irgendwie zu rechtfertigen, gab ich mir den Anschein, als sei ich aufgestanden, um die Bildunterschrift des Photographen zu lesen. Und was ich las, war nun wirklich schrullig: » ANSICHT DES HIMMELS ÜBER TROJA «.
    »Sie sind in Troja gewesen?« fragte ich dümmlich.
    »Wie könnte ich dort gewesen sein?« Der Alte griente leicht. »Mich gab es damals noch nicht.«
    »Natürlich, ich meine …«, murmelte ich und stieß nur wieder auf meine Dummheit. »Ich spreche von dem Ort, der, wie ich gelesen habe, kürzlich ausgegraben wurde, wo Troja war … ich meinte das heutige Troja …«
    »Nein, das ist der Himmel eben jenes Troja, ist jener Himmel«, sprach der Alte ausdruckslos.
    Ein Kälteschauer lief mir über den Rücken. Als junger Mann hatte ich Angst vor der Begegnung mit dem Wahnsinn. Was rede ich! nicht einmal einen Toten hatte ich mein Leben lang je zu Gesicht bekommen, Unfallopfer nicht gerechnet, aber das sind noch keine Toten, sind nicht deine Toten. Und Wahnsinnige … nur lächerliche Schatten im Menschengewühl auf der Straße. Aber Schwachsinn ist kein Wahnsinn. Jetzt bekam ich einen Schreck vor Vanoski, wandte den Blick ab und starrte auf seinen Schrank.
    Im »Letzten Fall von Briefen« (dem Roman über das Poem)
gibt es bei ihm eine Stelle – ach, was für eine Stelle! Ich kann nicht erklären, weshalb gerade sie jedesmal so auf mich wirkt, dabei habe ich sie schon viele Male wiedergelesen, sie abgenudelt wie eine Lieblingsschallplatte, ja … Dort erwartet der Held einen Brief, der kommt nicht, darauf wandert er, von Leid und Leidenschaft zermürbt, durch eine Heide zur Meeresküste; plötzlich steht vor ihm auf der Düne ein löchriger Furnierholzschrank, offenbar von der Brandung an Land geworfen, der Held öffnet unwirsch und mechanisch die Schranktür – dort liegt ein Brief. Er reißt ihn wütend auf, starrt hinein, im Brief steht: »Lieber Urbino!«, weiter lässt sich jedoch nichts entziffern; es sind gleichsam Wörter und Buchstaben und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher