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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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werde ich ihn wohl kaum vollenden … das Leben wird ihn vollenden.«
    »Über das Leben im Jenseits?« suchte ich zu ergründen.
    »Im Diesseits!« Er war aufgebracht. »Woher wollen Sie wissen, welche Seite die hiesige ist und welche die andere?!« Wahrscheinlich sah ich mutlos drein, er schaute mich an, als wäre ich ein Kind, und seine Augen waren erneut wunderschön. »Ich habe einen Roman, einen vielleicht fast abgeschlossenen … aber ich kann ihn nicht finden. Was im übrigen kein Wunder ist, denn so heißt er: ›Das Verschwinden der Gegenstände‹. Darin … Nein, ich werde ihn nicht nacherzählen! Das wäre ein ›falscher Fauxpas‹.
    Ist Ihnen das nie passiert, dass Sie ein Wort vollständig vergessen? Sie wissen es ganz sicher, sind aber nicht in der Lage, es herauszubringen? … Sie sagen, das ginge allen so? Aber später fällt es Ihnen doch wieder ein. Dagegen so vergessen, dass es für immer ist, fürs ganze Leben! Ich hatte einmal solch ein Schlüsselwort ; in meinem ganzen Leben war es mir nur einmal eingefallen, aber da geriet ich in einen Sturm und vergaß es für immer. Bis zum heutigen Tag … Irgendwas muss das zu bedeuten haben, dass gerade dieses Wort und gerade ich …! Haben Sie mal beobachtet, wie Sonnenblumen sich die Sonne einprägen, um sie bis zum Morgen nicht zu vergessen?« Das Auge des Alten begann verschmitzt zu funkeln. »Wollten Sie nicht, dass ich Ihnen eine Landschaft male? Na schön. Das wird eine Landschaft, die außer den alten Griechen nie jemand gesehen hat …«
     
    »Solche Sonnenblumenfelder dürfte es auch im antiken Griechenland gegeben haben. Wir haben das, Dika und ich, in Italien beobachtet, nein, nicht mehr im antiken.« Der Überzeugung halber griff er sich an die Wade, um zu zeigen, wo das war. »In Umbrien. Da gab es ein riesiges Sonnenblumenfeld, an ihm vorbei stiegen wir ins Gebirge, um Sonnenauf- und Sonnenuntergänge zu erleben. Wie jedermann weiß, sind Sonnenblumen stets der Sonne zugewandt. Fangen jeden kleinen
Strahl ein. Haben sich die Sonne sogar aufs Mäulchen gemalt wie Kinder. Wir gingen vorbei, lächelten ihnen zu und sie uns. Bei Sonnenuntergang sahen sie übrigens konzentrierter und besorgter aus, wie Soldaten in Reih und Glied, die auf ein Kommando warten. Man hätte meinen sollen, sie müssten die letzten Strahlen einfangen – da schwenkten sie plötzlich geschlossen um, weg von der Sonne, und zeigten uns ihre gleichmäßigen, geschorenen Nacken! Es war unverständlich. Sie konnten es der Sonne doch nicht übelnehmen?
    Ich wusste es mir nur so zu erklären: Sie sind bereit, den ersten Strahl zu begrüßen, und nicht, den letzten zu verabschieden! Die Energie der untergehenden Sonne nutzen sie, um sich der aufgehenden Sonne zuzuwenden! Bestimmt bietet die aufgehende ihnen mehr brauchbares Licht. Dika akzeptierte meine Theorie nicht, obwohl sie, im Unterschied zu mir, von Biologie etwas verstand. Aber sie interessierte sich mehr für Tiere, mich hatten Pflanzen stets mehr fasziniert. Ich erzähle ihr was von Sonnenblumen, sie mir von Ziegen. Warum sie den Hang immer in eine Richtung hochliefen, das sei doch unbequem, immer in eine. Und nie zurückkehrten … Ich sage zu ihr, das sei so eine spezielle Rasse, eine Bergziege, da seien die rechten Beine kürzer als die linken. Aber wie kehrten sie zurück?? Dika war ihretwegen besorgt. Sie fallen doch um! Da müssten sie eben ihr Leben lang im Kreis herumlaufen, fand ich die passende Erklärung. Und sie glaubte es. Sie war sehr vertrauensselig.«
    Das Gesicht des Alten wurde plötzlich streng, nun fuhr er so fort:
    »Verstehen Sie, Leben ist Text. Ein Text, den die Lebenden nicht bis zu Ende gelesen haben. Aber auch Text ist Leben! In jeder Zeile muss das Geheimnis der künftigen Zeile stecken. Wie im Leben – die Unbekanntheit des nächsten Augenblicks. Wir sind keine Sonnenblumen. Wir sind Ziegen. In Amerika wunderte sich Dika, wo die Amerikaner am Thanksgiving Day so viele Putenbeine hernähmen. Ich konnte sie leicht überzeugen, dass die Amerikaner zu diesem Zweck eine spezielle Rasse mit vier Beinen gezüchtet hätten, verstehen Sie?« Der
Alte schneuzte sich geräuschvoll und tupfte die tränenden Augen trocken.
    Ich habe Grund zu dem Verdacht, dass er nicht mehr recht bei Verstand war. Hätte ich dieses Wahngerede damals veröffentlichen können? Hätte ich zwar, eine Sensation wäre es auf jeden Fall geworden. Ich war jung, träumte von Ruhm. Nun gut, ein kluger Beamter riet
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