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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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gewissenhaft auf Distanz gegangen ist, als wäre es meine Rolle, ihm den letzten und nun doch lebhaften Schmerz zuzufügen. Jede meiner Bewegungen riss seinen altersschwachen aschgrauen Kokon weiter ein, der, Kindheitserinnerungen nach, einem verlassenen Wespennest glich! Jetzt kam es mir vor, als hätte der Alte auf den ersten Blick, kaum dass ich zu ihm in den Aufzug trat, seinen Henker in mir erkannt – soviel Schwermut hatte sein erster Blick ausgedrückt, in den Grenzen von Wohlerzogenheit und Schicklichkeit, allerdings war das Geviert innerhalb dieser Grenzen gefüllt bis zum Rand. Schließlich konnte er nicht jeden Fahrgast so anschauen, also hatte er bereits erwartet … Zugleich jedoch, und das wusste ich genau, konnte er nicht mich erwartet haben, schon deshalb nicht, weil er von seinen Büchern nichts mehr erwartete, keinerlei Effekt, also hatte er jemanden erwartet. Dieser »Jemand« hätte ich sein können, war es aber nicht, das erkannte ich daran, wie rasch ihn die Furcht verließ, als ich ihm meine Aufgabe erklärte. Aber als sie ihn verließ, war das, so kam es mir vor, nicht nur eine Erleichterung, sondern im selben Moment auch eine Enttäuschung. Nun empfand er Langeweile, Überdruss, Ärger, und das in jenem letzten Ausmaß, über das ich nur Vermutungen anstellen, aber keine Vorstellungen haben konnte, wusste ich doch nichts von jener abgrundtiefen Abwesenheit, in die ein Autor versinkt, der uns naheliegende und verständliche Dinge neu erschafft …
    Vanoski sagte, bis zum Ende seines Dienstes könne er sich mir nicht widmen, das wollte ich jedoch umgehend regeln. Er suchte mich abzuhalten, erschrocken und schüchtern, und
ich erklärte, es mache mir absolut keine Umstände. Mit der Selbstsicherheit eines jungen Holzkopfs vermutete ich, dem in Armut und Unbekanntheit dahinkümmernden genialen Alten müsse der Ausbruch an Liebenswürdigkeit und Unterwürfigkeit angenehm sein, den seine Chefs an den Tag legen würden, sobald ich mein Mandat von der mächtigen »Yesterday News« vorgewiesen hätte. Und in der Tat, alles kam, wie ich vermutet hatte: Der Chef zeigte sich beflissen – natürlich, natürlich! – und gab dem Alten für den ganzen Tag frei, ersetzte ihn mühelos durch jemand anderes. Die tiefblaue Pein allerdings, die sich auf dem Gesicht des alten Vanoski abzeichnete bei all dieser Beflissenheit, dem servil neugierigen Blickewerfen des Chefs, dem kannibalischen Lippenlecken in Erwartung eines kostenlosen Wunders – eine solche Schwermut im Blick hatte ich nicht vermutet: So wird aus dem Käfig auf Zoobesucher geblickt. Ich hatte den Kräftehaushalt des Alten aus dem Gleichgewicht gebracht; das war bereits geschehen und war ihm klar.
    Das Szenario, in das er geriet, stand von vornherein fest: Die Sensation eines neuen Stars – aus der Armut und dem Nichts unter die großen Künstler – stellte sowohl den Künstler wie die Armut in den Schatten, die Sensation war die Hauptsache. So dass der arme Alte in keiner Hinsicht mehr er selbst werden konnte, sondern nur der Vanoski zu sein hatte, wie ihn die ohne ihn entstandene Legende wollte – und diese musste weiterentwickelt werden, solange ihre Zeit da war, nach ganz schlichten und von vornherein feststehenden Handlungsgesetzen. Das in Armut geschaffene Meisterwerk verlangte Armut, die ein Meisterwerk geschaffen hat – und der Positivismus triumphierte. Ich fragte ihn, wie er es fertiggebracht habe, Derartiges zu schreiben, und er antwortete: »Weiß ich nicht.« Ich fragte ihn, was er mit den zwanzigtausend Dollar anfangen würde, und er sagte: »Erinnere mich nicht.«
    Eigentlich hätte ich auch gehen können, denn der Alte konnte mir zu nichts mehr nütze sein. Er brauchte nichts, folglich müsste er auch nicht, aus allgemeinen Vorteilserwägungen, auf mich eingehen, an anderem war die Zeitung jedoch nicht
interessiert. Auf die Wahrheit wäre allein ich persönlich neugierig gewesen, aber bis zu ihr war es weit, und Zeit hatte ich nicht. Auch konnte der Blick in diesem wie geschleckten Sarg nirgends haltmachen, denn nur ein einziger Gegenstand verschönte den Raum, ein ziemlich merkwürdiger übrigens, wollte man ihm Aufmerksamkeit schenken: eine verglaste, in dünnen Metallrahmen gefasste, recht großformatige Photographie. Doch auf der Photographie war eigentlich gar nichts dargestellt, sie war im Grunde leer, nur in einer Ecke befand sich so etwas wie ein Wölkchen. Gegenüber dem Fenster angebracht, über dem Bett,
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