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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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verschwindet wie aus der Zeit.
    ›Wenn diese Ansammlung verlorener Dinge endgültig verschwunden ist, so ist auch der Roman geschrieben.‹
    Urbino wunderte sich über gar nichts mehr. Ja, so ist es. In letzter Zeit sieht er nie mehr, was er vor Augen hat. »Wo ist das Salz?« Alles sucht er ab, dabei steht es direkt vor seiner Nase.
    Dort nämlich, wo es gewesen ist, wo er gleich zu Beginn hingeschaut hat, beim ersten Mal.
    ›Ich bin noch nicht verrückt‹, sagte sich Urbino Vanoski entschieden. ›Hat sich der Rasierer gefunden, ist folglich auch der Roman geschrieben. Und wenn der Roman geschrieben ist, so liegt der Rasierer zu Hause. Mich erwartet der Reporter. Ich könnte ihm den Abschluss des Romans verkünden. Um dessen sicher zu sein, müsste ich zuerst überprüfen, ob der Rasierer tatsächlich an seinem Platz liegt!‹
    Er stieß den Manuskriptstapel auf, längs und quer, klemmte ihn unter den Arm und wandte sich zum Ausgang.
    Es gab keinen Ausgang. Sie waren glatt und kahl, die vier Wände.
    Als er konfusen Blickes alles absuchte, sah er auf einmal den Knopf. Es war genau der gleiche wie bei ihm überm Bett, doch war Urbino nicht in der Lage, sich bis zu ihm hochzurecken.
    Hochzuspringen gelang ihm ebenfalls nicht. Er fiel nur hin und verknackste sich heftig den Fuß, versuchte aber noch, das auseinanderfallende Manuskript festzuhalten. Oh, wie er das sein Leben lang gehasst hatte, diese entgleitenden und auseinanderfallenden Manuskripte! Wie die es fertigbrachten, dass alle Seiten durcheinandergerieten! Kriechend schob er diese Meduse zusammen, und irgendwie schaffte er es bis zum Tisch. Ein nackter Tisch, Schreibmaschine, Krawatte und Revolver – allerdings, was für eine Komposition!
    Urbino klatschte den Stapel an die Stelle, wo er zuvor gelegen war.
    Es verdross ihn, dass er nun doch nichts geschrieben hatte. »Die Formel für den Riss« war eine seiner letzten ungeschriebenen Lieblingserzählungen. Jetzt wäre der rechte Moment! entzündete sich Urbino. Er stellte den Wagen hoch, um den Titel in Großbuchstaben zu tippen, aber der Feststeller funktionierte nicht, er musste die Taste gedrückt halten und mit dem Finger einer Hand tippen:
     
    DIE FORMEL FÜR DEN RI  … [ 55 ]
     
    Der Buchstabe щ war abgegangen. Ein seltener Buchstabe, aber wie unerlässlich, wenn er nicht da ist! Der Ungebräuchlichkeit wegen … Metallermüdung … Metall kann ermüden, warum nicht gar ein Buchstabe.
    Mit aller Macht rief sich Urbino die Erzählung ins Gedächtnis. Darin passierte nichts weiter, als dass zwei Menschen miteinander ein Treffen verabredeten, auch genau an den vereinbarten Ort kamen, einander jedoch zeitlich verfehlten. Im Raum hatte sich ein Riss gebildet, und dort hineingesackt war eine Straßenbahn, in der zur selben Zeit der Vater des Helden mit seiner Geliebten saß.
    Die Straßenbahn fiel in einen Kanal und versank sofort, zusammen mit den Passagieren. Nur zwei konnten sich retten, da sie sich in einer Luftblase am Straßenbahnende befanden, das über die Wasseroberfläche hinausragte. Die Geliebte verlor den Verstand, und dem Vater verdankte der Held dann seine Geburt. Und nun stellt sich der Held die Frage: Wer ist er? Oh, eine solche Erzählung zu schreiben wäre es wert! Und nun das щ …
    In den Umrissen des Buchstabens lag seine Bedeutung be
schlossen. Urbino ließ den Buchstaben aus, um ihn später von Hand nachzutragen. Es ertönte ein leichtes Knacken, über die Wand kroch ein Riss, als wollte er das verlorene щ malen, dabei begann es mit dem Schwänzchen, mit dem der Buchstabe eigentlich endet, aber immer schwungvoller und mit wachsendem Knacken klafften auch seine drei Parallelen auf.
    Urbino erschrak und zielte mit dem Revolver auf den Knopf. ›Nein, den treffe ich nicht‹, überlegte er nüchtern, auf den Stuhl gestützt. Eine Lehne hatte der nicht – ein Hocker! Damit komme ich bis hoch.
    Revolver oder Hocker? – was für eine Wahl! Er schmunzelte, mit fröhlichem Galgenhumor. Und begab sich entschlossen in die Ecke seiner Schande, um den Revolver an seinen Platz zu legen. Die Wahl war getroffen, trotzdem stand er noch eine Weile nachdenklich in dieser Ecke. Er schmunzelte, wickelte vorsichtig, als wäre es ein Kindchen, die Waffe in die Krawatte und legte sie auf die gestohlenen Geldscheine, seufzte – und griff nach Tantchens Flasche. Trank einen Schluck. Der unverdünnte Sprit explodierte in ihm, erfüllte die Brust mit seiner Flamme und die Seele mit
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