Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
noch ein Motto … weiß ich nicht mehr. Womöglich von Edgar Allan Poe: »Denn was wir scheinen, was wir schaun, Das dünkt mir nur ein Traum im Traum.«
    Womöglich von einem alten Japaner (oder Chinesen)? Unwichtig. Wichtig ist – wo ist die Schreibmaschine! Auch verschwunden. Hatte nicht der Hofdieb sie mitgehen lassen und ihm statt dessen die nicht zu stemmende Underwood hingestellt? Die andere, das war so eine kleine, geliebte … eine Adler … was war auf der nicht alles geschrieben worden! Es kam ihm übrigens vor, als hätte er sie in Amerika vergessen. Vielleicht war dem auch so. Dann verdächtigte er seinen Dieb mal wieder zu Unrecht. Erneut dachte er voll Wärme an seinen Hofdieb, immerhin mochte der die gleichen Dinge wie sein Herr. Wie geschickt er seine Vergesslichkeit ausgenutzt hatte! Zwei Regeln hatten ihm stets genügt, um seinen Herrn, den Schwachkopf, zu übertölpeln: »auf der Stirn steht nichts geschrieben« und »wer nicht erwischt wird, ist kein Dieb«. Er kann doch nicht einen ehrlichen Menschen durch einen ungerechtfertigten Verdacht beleidigen?
    Was will er von ihm, wenn er sie selbst weggegeben hat?
    Jetzt wieder, gibt er nicht selbst sein Leben diesem Reporter in die Hand? Der Gedanke an den Reporter versetzte ihn erneut in Panik, erneut blickte er mit Grausen auf den Knopf – er brauchte bloß draufzudrücken, und herein käme der Reporter.
    Aber vielleicht öffnet dieser Knopf ein Löchlein zu dem unsichtbaren Zimmer?
    Nein, er wird den Knopf nicht drücken! Der Kerl soll auf den Lift warten! dachte Urbino schadenfroh und stellte sich lebhaft den Interviewer vor, wie der, nach Kölnisch Wasser duftend, im Vestibül wartete, unterm Arm ein Buch für eine Widmung.
    Aber vielleicht doch das Zimmer? Drücken oder nicht drücken? Er strich noch einmal über den billardbeinernen Knopf, bänglich und zärtlich. Er hatte die Wahl … Wieso hatte er nie begriffen, was ihn an diesem Spiel anzog – überhaupt nicht der stirnbeinerne Ball, auch nicht das roulettgrüne Tuch, auch
nicht der Versuch, den Ball exakt in den Hodensack des Billardlochs zu versenken … Die Wahl! Die Wahl zwischen den Varianten des Stoßes. Das war es.
    Sein Traum handelte jedoch nicht davon.
    Sie fuhren auf einem Torpedoboot. Zwei stramme junge Seeoffiziere, Kapitän und Leutnant, begleiteten ihn. Er sah sie im Leben zum ersten Mal. Sie ihn anscheinend auch. Der Kapitän jedenfalls musterte ihn geradezu eindringlich. Auf dem Torpedoboot war noch eine Menge anderer Leute, Männer und Frauen von mittlerem Alter und gleichem Gesichtsausdruck. Sie fuhren als Gruppe, als Statistenmasse, quasi die nächste Belegschaft eines Erholungsheims oder Sanatoriums. Alle standen, nur sie drei saßen.
    Weshalb die Ehre? War er verhaftet, oder was? Auf einmal wurde klar, dass der Kapitän Arzt war und dass sie ihn zur Behandlung brachten. Jedoch stellte der Kapitän keine Fragen, und ebenso schweigend fügte sich Urbino. Über etwas, das nur sie betraf, tauschten sich die beiden manchmal aus. Der Kapitän nahm sogar die Hand des Leutnants und hielt sie längere Zeit schweigend und herzlich. Als hätten sie etwas vereinbart. Da legte das Torpedoboot an einer Art Pier an, und der Leutnant sprang leicht hinaus.
    »Wie nett er ist!« Zum ersten Mal sagte der Kapitän etwas zu Urbino.
    Urbino stimmte bereitwillig zu: »Ja, sehr.«
    »Ich freue mich jedesmal, wenn ich ihm begegne.«
    Urbinos Befremden wuchs.
    »Und was ist mit mir?«
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Was Sie haben, haben nur Sie . Der Zahn vergeht von allein.«
    Was für ein Zahn? Unterdessen stiegen alle Passagiere im Gänsemarsch das Fallreep hinab. Sie beide blieben zurück.
    »Aber Sie haben mich nicht einmal untersucht!«
    »Doch. Ich habe mein eigenes Röntgenauge«, erklärte er.
    »Was bin ich Ihnen schuldig?«
    »Nichts. Sie kommen doch auf Empfehlung von Galina L.? Also sind Sie einer von uns. «
    ›Nur Sie, einer von uns …‹ Und was hatte Galina L. damit zu tun?
    Urbino begriff nichts. Woher wussten sie von ihr? Obgleich ihm jetzt, häufiger als andere, diese Frau in den Sinn kam, die vorbeigegangen war an seinem Leben, vorbei an seinen Frauen, Kindern, Leidenschaften. Als ob sie auf ihn gewartet hätte – wie sich zeigte, war sie vorbeigesaust. Wer an wem vorbei?
    Es blieb nur noch, das Fallreep hinabzusteigen.
    »Und wohin soll ich jetzt?«
    »Nehmen Sie ein Taxi. Oder eine Rikscha. Es ist nicht weit. Ich muss in die Sprechstunde.«
    Urbino
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher