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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer
Autoren: Andrew Bitow
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mechanisch die Krawatte und ein Buch aus dem Haufen und ging zum Tisch. Setzte sich.
    In der Schreibmaschine eingespannt war bereits eine Seite mit dem in Großbuchstaben getippten Titel
     
    DAS VERSCHWINDEN DER GEGENSTÄNDE
     
    Es widerte ihn an, dass er ihn so lange, so längelang, so lebenslang nicht geschrieben hatte, diesen Roman. Dort lag er doch, als Haufen in der Ecke – schreib bis zum Gehtnichtmehr! Schreib einfach die Geschichte jedes Gegenstands auf, seines Erwerbs, seines Verlusts … und chronologisch muss das überhaupt nicht geordnet sein, im Gegenteil, sogar besser in der Nichtfolgerichtigkeit des Erinnerns … na, schaute die Sonne raus? hatte es geschneit? fuhr ein Pferdeschlitten vorbei? klingelten die Glöckchen? wann war das gewesen?!
    Wichtig ist, wie die Nüstern sich blähen von diesem Pferdchengeruch! Wieso schreibst du denn nicht, alter Bock? Er hatte es zu lange gewollt.
    Da patschte Urbino auf den gewaltigen Stapel leeren Papiers und riss hasserfüllt das Blatt aus der Nichtschreibmaschine. Das Blatt feixte, es behielt die jahrelang fixierte Krümmung.
     
    Das Blatt, es feixt auf seiner Titelsuche
Und hat des Mottos Spöttelei im Sinn.
O Jugendzeit, wo ist die Seelenruhe,
Der Text sei einfach, wärst du nur erst drin?

»Im Anfang war das Wort«, das sagt sich locker,
Jedoch, so war es, gleich, aus welcher Sicht.
Wie schön ist dieser »Tag voll Frost und Sonne«!
Zugleich vergiss nicht deine strenge Pflicht …
     
    Da zerknüllte Urbino das Gedicht, strich es aus. Er muss doch lediglich die Geschichte jedes neu erworbenen Gegenstands beschreiben. Aber welcher ist der erste? Vaters Rasierer? Nein, das wäre zu früh. Wäre zu stark, wenn gleich der Vater … Dann der Pullover. Er schlug das aus dem Haufen gezogene Buch auf. Ausgerechnet, »Robinson Crusoe« in der ersten, der Kinderausgabe. Nur zu gut weiß er, welche Stelle er gern wiederlesen würde: wie Robinson das Allernotwendigste aus dem gestrandeten Schiff herüberholt. Im übrigen hat es auch in seinem Leben mal ein gestrandetes Schiff gegeben. Urbino hat darauf, das weiß er noch, einige Zeit zugebracht … Nicht einmal erinnern mag er sich. Der überraschende Robinson-Reichtum fasziniert Urbino nicht mehr, sobald er zum so überraschend erworbenen Haufen blickt. Der sieht von weitem aus wie das Modell eines unvollendeten Doms von Gaudi.
    Urbino wirft einen Blick in die andere Ecke und sieht dort ein ganz winziges Häuflein.
     
    Unklar warum, aber das versetzt ihm sogleich einen Schreck. Es ist jedoch leichter, den Schreck zu überwinden, als auf die verstaubte Tastatur einzuhacken. Urbino erhebt sich entschlossen vom Arbeitsplatz und begibt sich in die düstere Ecke.
    Dort liegen zwei Tintenkulis, noch mit Kolben, interessan
tes Design … Die hatte er aus Papas Arbeitszimmer stibitzt, sie waren schon damals ein veraltetes Modell und funktionierten nicht mehr. Eine Flasche mit Sprit … die hatte er dem Tantchen geklaut, für seinen älteren Bruder, der bereits an Alkohol Interesse zeigte (dabei brauchte das Tantchen den Sprit fast überhaupt nicht, sie nahm davon ein Löffelchen pro Jahr, um zu Weihnachten die Charlotte zu flambieren). Das Tantchen suchte sie wie eine Stecknadel, das garstige Urbinolein »fand« sie, die verschwundene Flasche, womit er alle unsäglich erfreute. Ein paar alte Geldscheine, heute höchstens für Sammler von Interesse; an zwei erinnerte er sich gut, denn die hatte er dem älteren Bruder geklaut. Aber diese zwei, späteren Datums?? Wie gern hätte sich Urbino nicht erinnert! Damit half ihm ein armes Mädchen aus, als er sein Geld verspielt hatte. Sie gab alles, was sie besaß, alles, ihren ganzen Arbeitslohn. Er versprach, es zurückzugeben, und vermied weitere Begegnungen. Wie schändlich! Wie hatte er es nur fertiggebracht, das restlos zu vergessen … Oh, wie gern hätte er es ihr jetzt hundertfältig ersetzt! Von wegen »hundertfältig«, wo sie ihn doch liebte … da kannst dich nur erschießen.
    Wie bestellt, fand sich in diesem Häufchen unter den Geldscheinen auch der Revolver des Onkels, des Grafen Varasdy, der aus irgendeinem Krieg auf Urlaub gekommen war zu ihnen aufs Gut; in seinem Koffer hatte der kleine Urbino gewühlt, als niemand zu Hause war. Der Koffer war leer, nur Hosenträger, Haarbürsten (der Onkel hatte eine Glatze), eine Epaulette (seltsamerweise eine) und ein ziemlich schweres Bündel: in einen sauberen Fußlappen war ein Revolver eingewickelt! Er war
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