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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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erzählte ich es ihm. Merkwürdigerweise empfand ich keinerlei Scham.
    „Bitte warten Sie einen Moment. Ich hole einen Fotoapparat und eine Filmkamera.“ Er verschwand durch eine Tür und war gleich wieder zurück. Zusätzlich hatte er ein Formular dabei.
    „Möchten Sie Anzeige erstatten?“
    Ich schwieg, weil ich das noch nicht überlegt hatte. Brachte es mir Vorteile? Auf den ersten Blick nein. Im Gegenteil.
    „Nein.“
    „Sie haben zwei gebrochene Rippen, zahlreiche Blutergüsse, einige schwere Hämatome, eine Platzwunde am Hinterkopf, die ich nähen muss, Abschürfungen am ganzen Körper.“
    „Nein.“
    „Also gut. Aber unterschreiben Sie dieses Formular. Lesen Sie es in Ruhe. Es belehrt Sie über Ihre Rechte.“
    Ich unterschrieb. Mir wurde immer klarer, welches Glück ich gehabt hatte. Meine Entschlossenheit wurde stärker. Ich hätte schreien können vor Freude.
    „Die gebrochenen Rippen werden nur langsam heilen. Ich werde Ihnen einen Stützverband anlegen.“
    Während er umsichtig und vorsichtig die Behandlung fortführte, entwickelte ich meinen Plan.
    „Treiben Sie Sport?“
    „Wieso fragen Sie?“
    „Ihre Figur deutet darauf hin. Sie haben den Körper einer Läuferin.“
    „Ja.“
    „Die nächsten vier Wochen dürfen Sie keinen Sport machen.“
    „Wieso nicht?“ Ich war entsetzt.
    Er musste es mir wohl angesehen haben. „Nun, zum einen, weil Sie Schmerzen haben werden. Insbesondere bei der Atmung. Mit einer gebrochenen Rippe ist nicht zu spaßen.“ Die Aussage schien ihm zu reichen. Mir aber nicht.
    „Und zum anderen?“
    Verwundert schaute er mir in die Augen. Er war jünger als ich, und er verstand mich nicht.
    „Sie könnten den Heilungsprozess gefährden.“
    Der Marathon!
    „Das geht nicht“, sagte ich trotzig.
    „Wieso nicht?“
    „Ich muss nächste Woche den Frankfurt Marathon laufen.“
    Er schüttelte den Kopf und versuchte sich zusätzlich zur ärztlichen Autorität einige Jahre älter zu machen, was ihm nicht wirklich gelang.
    „Auf keinen Fall!“
    „Doch.“
    „Sie sind verrückt.“
    „Nein.“
    „Sie wissen doch selbst, wie anstrengend ein solcher Marathon ist. Werden Sie erst gesund, dann können Sie wieder laufen.“
    „Ich weiß nicht, wie anstrengend ein Marathon ist. Es ist mein erster. Aus diesem und noch anderen, viel wichtigeren Gründen muss ich ihn laufen.“
    Wieder schüttelte er den Kopf und wirkte jetzt schlagartig einige Jahre älter. Erkenntnis macht alt.
    „Ich habe Sie beraten und auf die Risiken hingewiesen. Um es ganz deutlich zu machen: Sie spielen mit Ihrem Leben. Wir haben Fälle gesehen, bei denen eine ungeschickte oder heftige Bewegung eine gebrochene Rippe verrutschen ließ. Sie bohrte sich in die Lunge, verletzte ein Blutgefäß und Exitus.“
    Ich presste die Lippen zusammen.
    „Ich werde laufen.“
    Still stand er auf und ging zum Computer. Er tippte einige Zeit auf den Tasten herum. Dann zischte und piepte es. Der Drucker spuckte ein Blatt Papier aus.
    „Ich brauche wohl noch eine Unterschrift von Ihnen.“ Nachdem ich eine erneute Belehrung unterschrieben hatte, sah ich ihn an.
    „Ich brauche Ihre Hilfe.“
    „Ja?“
    „Der Marathon.“
    Jetzt nickte er, nachdem er seine ärztlichen Pflichten erfüllt hatte. Sein Körper spannte sich. In seinen Augen war ein Funkeln zu sehen. „Na gut. Ich verschreibe Ihnen ein Schmerzmittel. Wann ist der Lauf? Am kommenden Samstag?“
    „Nein. Am Sonntag.“
    „Beginn?“
    „10 Uhr.“
    „Dann sind Sie um 6 Uhr hier in der Klinik. Ich lege Ihnen einen besonderen Stützverband an und gebe Ihnen noch einige Medikamente.“ Er grinste. „Ein klein wenig Doping. Sie sind ja kein Profi.“
    „Nein, das will ich nicht. Ich will den Lauf auf normale Weise schaffen.“
    „Das war mir schon klar. Es war auch nur ein Witz.“ Dann überlegte er. „Sie fahren nicht mit dem Auto, sondern nehmen einen Regionalzug von Gelnhausen. Der Start ist doch immer am Messeturm?“
    Ich nickte.
    „Sie nehmen den Regionalexpress um 6.53 Uhr. Dann sind Sie um 7.28 Uhr in Frankfurt am Hauptbahnhof. Das sollte Ihnen reichen.“
    „Sind Sie Autist?“
    Er verstand. „Nein, diesen Zug nehme ich selbst des Öfteren. Deshalb kenne ich die Zeiten auswendig.“ Nach einer Pause. „Wenn Sie wollen, dann fahre ich Sie hier in Gelnhausen zum Bahnhof, wenn die Behandlung abgeschlossen ist.“
    War das noch ärztliche Dienstleistung oder etwas anderes? Vielleicht hatte er sich die Schürfwunden und Blessuren
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