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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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Schlafzimmer. Müde zog ich mein teures Nachthemd über und spürte die Kühle der Seide wie Balsam auf meiner Haut. Nach wenigen Minuten war ich eingeschlafen.

FRAGESTUNDE
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte,   nahm ich als Erstes eine weitere Schmerztablette. Ich war schon Expertin in der Wahl der Dosierung. Kein Wunder. Mühsam ging ich mit steifen Muskeln in die Küche. Ich wusste, dass ich allein sein würde und genoss die Stille im Haus. Er war Frühaufsteher und musste in seiner Firma der Erste sein: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.
    Das Weißbrot bruzzelte mit nussigem Aroma zwischen den Heizstäben des Toasters, die Kaffeemaschine gluckste zufrieden vor sich hin, und durch das leicht geöffnete Fenster mischte sich eine Vogelstimme ein. Mein kleines Paradies. Nein, meldete sich die andere Stimme in meinem Kopf: dein Gefängnis. Mach dir nichts vor.
    Während beide Stimmen leise vor sich hin stritten, kaute ich das getoastete Weißbrot und genoss den buttrigen Honiggeschmack. Ich beschloss, der kritischen Stimme zu folgen. Viel zu lange schon hatte ich mich belogen und war in die Lethargie abgesunken. Damit musste jetzt endlich Schluss sein, sonst konnte ich meinem Leben gleich ein Ende bereiten.
    Im Schlafzimmer schlüpfte ich aus dem Seidennachthemd und betrachtete mich im Spiegel. Eine gebrochene und aufgequollene Frau sah mich deprimiert und vorwurfsvoll an. Früher hübsch. Andere sagten sogar schön. Lange Haare. Wellig. Unbestimmbare Farbe. Im Licht schimmernd. Gut duftend, hatte mal ein Junge gesagt, der mir beim Tanzen sehr nahe gekommen war. Die Augen. Mein Gott. Meine Augen. Ich weiß noch, wie ich früher meine Augen geliebt habe. Die viel zu spät wachsenden Brüste. Noch nicht Frau, aber auch nicht mehr Junge. Ambivalent. Chimäre. Aber die Augen waren Frau! Schon immer. Und jetzt? Der Tod blickte mich an. Dunkle Schreie.
    Ich riss mich von diesem deprimierenden Spiegelbild los und wählte ein dezentes, aber elegantes Kostüm. Es sollte mir Selbstvertrauen geben und mich an bessere Zeiten erinnern. Damals, als Karl noch um mich gworben hatte und zumindest in dieser Phase liebevoll mit mir ungegangen war. Wir hatten eine Woche im Schwarzwald verbracht, waren viel, gewandert, hatten noch mehr gegessen und uns noch viel mehr geliebt. An einem Tag hatten wir die Boutiquen in Freiburg geplündert. Dieses Kostüm hatte ich viele Jahre nicht mehr angezogen. Als ich den Rock hochziehen wollte, spürte ich sofort, wie viele Jahre. Ich passte nicht mehr hinein! Was war das für ein Gefühl? Wut, Resignation, Selbstaufgabe? Ein bitterer Cocktail.
    Also die zweite Wahl, ein maßgeschneiderter Hosenanzug, papageienblau, und eine Bluse in Safrangelb, dazu eine dünne Lederkrawatte. Ja, ich hörte Lisa, meine beste Freundin, aufschreien: Wie läufst du denn wieder rum? Oder ein anderer Vorwurf von ihr: Wieso läufst du ihm nicht einfach weg?
    Das Weglaufen war mir nicht möglich. Nach den Shopping-Touren und unendlich vielen schönen Stunden mit ihm war dann die Hochzeitsnacht gekommen. Wir hatten kirchlich geheiratet. Ich spürte den schweren Platinring an meinem Finger. Ungewohnt. Fesselnd. Viel später, nach dem Abendessen im trauten Kreis von wenigen Freunden im Sternerestaurant des Frankfurter Hofs, waren wir dort im Hotel auf unser Zimmer gegangen. Ich zog mich aus und legte mich aufs Bett. Er kam aus dem Bad, warf sich auf mich und fesselte mich dann ans Bett. Verwundert ließ ich es geschehen. Vielleicht hatte er eine ganz besondere Zeremonie vor?
    Schon nach wenigen Minuten merkte ich: Ja, aber anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Keine Verführung à la 9½ Wochen, sondern härteste Brutalität. Meine erste Vergewaltigung. Ich versuchte, mich aufzubäumen. Die Fesseln schnitten in meine Haut. Ich blutete. Ich schrie. Er stopfte mir ein Tuch in den Mund. Dann bekam ich keine Luft mehr. Mein Widerstand erlahmte. Nachdem er mich vergewaltigt hatte und selbst schweißgetränkt auf mir lag, hörte ich ihn sein Mantra flüstern. Wenn du mich verlässt, bringe ich dich um. Er sagte es so lange, bis ich vor Erschöpfung einschlief.
    Trotzig reckte ich das Kinn nach oben. Ich brauchte jetzt einen verrückten Kick, sonst würde ich es nie schaffen, mich aus meinem Elend zu befreien. Ich holte die Adresse des Therapeuten in Frankfurt, die ich von Lisa hatte, aus dem Versteck zwischen meinen Büchern, die Karl nie anfassen würde. Frauenscheiße, so sein derbes Etikett für meine Lesestaffel.
    Lisas
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