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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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unterscheiden, gab einige sehr laute krächzende Töne von sich. Ich bekam eine Gänsehaut. Die wenigen Geräusche des Waldes erstarben in diesem Moment. Nach einer längeren Atempause erwachte der nächtliche Wald neu zum Leben. Es erschien mir wie eine Wiedergeburt. Ich vernahm Geräusche, die ich nicht kannte, aber auch das mir vertraute Rufen des Waldkauzes.
    In diesem Moment wälzte sich ein brummendes Geräusch zunächst nur sehr leise durch den Wald, wurde aber schnell lauter. Der Rettungswagen erschien und blendete mich mit seinen Scheinwerfern. Karls Augen leuchteten glühend wie die einer Katze. Die Sanitäter stiegen schnell aus und legten Karl auf die Bahre. Ein Notarzt untersuchte ihn sofort und rief etwas, das wie Reanimation klang.
    Ich konnte es kaum verstehen, denn einer der Sanitäter sagte zu mir: „Schnell, steigen Sie ein.“
    Als ich den Kopf schüttelte, insistierte er ein weiteres Mal. Doch ich entgegnete mit fester Stimme: „Ich kann nicht. Ich muss mich beruhigen und möchte zurücklaufen. Fahren Sie.“
    Er schüttelte den Kopf und fuhr sofort los. Das Geräusch des Wagens verlor sich schnell in der Ferne. Nach einer erneuten Atempause meldeten sich wieder die dunklen Töne des Waldes. Sie leiteten mich bis zu unserem Haus. Den Wagen von Karl ließ ich einfach am Waldrand stehen.

KEIN EPILOG
    Alles schien wie gewohnt und war doch völlig anders. Das erneute Drücken der Klingel, dieses Mal aber mit einem anderen Finger. Er öffnete nicht. Die Tür schwang auf.
    An der Empfangstheke saß eine ältere Frau. Sie hatte so viele Lachfalten um die Augen, wie ich es noch nie gesehen hatte.
    „Frau Röder?“
    Ich nickte. Sie auch.
    „Dr. Bring erwartet Sie. Sind Sie das erste Mal bei uns?“
    Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte mich damals nicht gesehen. Hatte sie Urlaub gehabt? Was hatte Dr. Bring noch erzählt? Ich wusste es nicht mehr.
    Er kam mir in seinem Sprechzimmer entgegen und gab mir die Hand. „Frau Röder?“
    Seine Augen zeigten kein Wiedererkennen.
    „Dr. Bring, wir kennen uns.“
    Nun schaute er mich mit seinen klaren Augen an. Lange. Er schüttelte den Kopf. „Frau Röder.“ Es schien ihm nichts zu sagen.
    „Ich war vor knapp zwei Jahren hier und hatte zwei Probleme.“
    Er war heute genauso wie damals. Ruhig. Zuhörend. Warmherzig.
    „Ich wollte zwei Probleme lösen. Abnehmen. Meinen Mann loswerden.“
    Ein Strahlen ging durch sein Gesicht. „Ja, ich erinnere mich. Ich habe sie zu Tim geschickt.“ Nach einer Pause. „Sie sind es? Nicht wiederzuerkennen!“
    Das Lob tat mir gut.
    „Ja, ich habe abgenommen. Ich habe laufen gelernt. Immerhin den Frankfurt Marathon absolviert.“
    „Glückwunsch.“
    „Ja, und Ihr Rat war zwar etwas doppeldeutig, aber irgendwann hatte ich kapiert, was Sie mir gesagt haben. Die Geschichte von Milton Erickson. Der Polizist.“
    Jetzt schaute er wieder etwas verständnislos.
    „Meinen Mann loswerden“, half ich ihm.
    „Darüber haben wir doch gar nicht gesprochen.“
    „Doch“, beharrte ich. „Sie gaben mir den Rat zu laufen. Und damit würde ich beide Probleme lösen.“
    „Bitte setzen Sie sich doch. Und erzählen Sie.“
    Ich holte tief Luft und berichtete ihm knapp, aber ausführlich genug, damit er die Entwicklung verstehen konnte. Während er anfangs eher heiter zuhörte, wurde er zum Schluss immer ernster. Er schien das Ende der Geschichte vorauszuahnen. Der erste und letzte Lauf mit Karl zum Schwarzen Berg.
    „Als ich den Notruf wählte, musste ich natürlich angeben, wo wir waren. Mitten im Wald, Waldwege, mit Fahrzeugen durchaus befahrbar. Aber von Burgjoss aus dauerte es dann schon fünfzehn Minuten, bis man uns fand. Es war mittlerweile völlig dunkel geworden. Ich hatte aber eine Taschenlampe dabei und leuchtete Karl ins Gesicht. War es der gelbe Schein der Taschenlampe? Sein Gesicht wurde immer blasser und immer gelber. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er erbrach sich. Er stammelte nur noch, schien auch heftige Schmerzen zu verspüren und japste nach Luft. Seine rechte Hand presste sich auf die linke Seite des Brustkorbs, direkt über seinem Herzen.“
    Ich machte eine lange Pause. „Er starb sehr qualvoll. Ich habe im Internet gelesen, wie es ist, wenn man einen Herzinfarkt bekommt und nicht sehr schnell ärztlich versorgt wird. Ein Drittel der Betroffenen sterben, bevor sie die Klinik erreichen.“
    Dr. Bring nickte. Ich wusste aber nicht, was dieses Nicken jetzt bedeuten sollte.
    Er stand auf und gab
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