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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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Sie war mir sofort sympathisch. Und dann ist es einfach passiert. Es tut mir leid.“ Pause. „Ich habe mich sehr bald von ihr getrennt und ihr gesagt, dass es mir leid tut.“
    Sehr lange Pause.
    „Claudia?“
    Er hörte sich ehrlich an. „Lisa war meine beste Freundin.“
    „No, Claudia, das tut mir leid.“
    Obwohl er nichts wissen konnte, spürte er, was geschehen war.
    „Tim, ich glaube, dass ich Lisa falsch eingeschätzt habe.“
    „Claudia, trotzdem: Es tut mir leid.“
    Ich nickte. Aber er konnte es nicht sehen.
    Sehr langes Schweigen.
    Tim brach es als Erster.
    „Und nun?“
    „Ich weiß es nicht.“ Dann drückte ich die rote Taste.
    Einige Tage später hatte ich die Ereignisse auf dem Schwarzen Berg noch immer nicht verstanden. Zum Glück war Karl auf einer Auslandsreise. Politisches Beziehungsmanagement. Auch der Landrat war dabei. Der IHK-Präsident. Ein Bundestagsabgeordneter. Und noch viele weitere VIPs. Es ging mal wieder darum, Bad Orb als Kurstadt zu retten. Der letzte Deal mit den Chinesen war zum Glück gescheitert. Das hatten wir verhindert. Ich musste immer noch kichern. Dieses Mal turnte die Delegation in Korea herum und versuchte erneut ihr Glück. Bullshit.
    Oh nein, immer diese englischen Ausdrücke. Tim hatte mich wohl völlig eingefangen. Tim. Schwarzer Berg. Schwarzes Loch.
    Wer war Tim? Ich wusste es nicht. Jedenfalls schien klar zu sein, dass Lisa keine Rolle mehr spielte. Schließlich hatte ich beide Seiten gehört.
    Egal. Ich musste laufen. Also rein in die Joggingschuhe und das tägliche Training absolvieren. Heute standen wieder 20 Kilometer auf dem Programm. Der Spessart war eine harte Trainingseinheit für einen Marathon. Die Steigungen waren beträchtlich. Beim Frankfurt Marathon gab es im Vergleich dazu nur winzige Berge, wie Tim mir verdeutlicht hatte. Dennoch: Würde ich es schaffen? Es meldeten sich wieder beide Stimmen. Mittlerweile hatte ich einen Knopf gefunden und knipste sie einfach aus. Bingo!
    Dann lief ich durch den Wald, den ich mittlerweile bestens kannte. Jede Strecke. Jede Abzweigung. Dazwischen immer wieder auf der Wanderkarte nachgeschaut, wo ich gelaufen war. Erfahrung und gedrucktes Wissen koordiniert. Intuition und Kognition synchronisiert. Der Wald wurde zu meiner Heimat. Ich kannte jeden Baum und war sehr oft irritiert, wenn sich irgendeine Winzigkeit verändert hatte. Wer war es? Ein Wildschwein? Der Förster? Ein Jäger?
    Ich war der wahre Jäger. Das spürte ich ganz tief in mir. Wen aber jagte ich? Einen Feind oder einen Freund? Oder mich selbst? Wollte ich diese Wahrheit zulassen, oder hatte ich immer noch Angst davor?
    Wie schon immer: Alles klärte sich beim Laufen. Dieses Mal auch. Nun wusste ich die Antwort.

GLÜCK
    Monate später. Ich spürte ein Vakuum in mir, dem ich hinterherlief. Oder umgekehrt? Das mich hineinsog? Wohin auch immer? Ich meinte, meine Richtung zu kennen.
    Meine Werte waren top. Pulsfrequenz. Tempo. Durchschnittswerte. Laktat. Mein Körper war schlank und sehnig geworden. Die Kilos, die ich mir vorgenommen hatte, waren schon längst verschwunden und total unwichtig geworden. Mittlerweile dachte und handelte ich in Relationen, die mir zuvor völlig unbekannt waren. Das Verhältnis von Fett zu Wasser. HDL und LDL. Völlig egal. Viel wichtiger: Ich fühlte mich gut. Nein: sehr gut. Mein Selbstbewusstsein hatte einen Sprung getan. Über eine Latte hinweg, deren Höhe ich bisher gar nicht kannte.
    Neulich beim Einkaufen. Ein Mann drängelte sich an der Kasse vor. Früher hätte ich einfach weggeschaut und gedacht: typisch Karl.
    Jetzt aber konnte ich nicht mehr wegschauen, auch nicht mehr nicht eingreifen. Ich stellte ihn zur Rede. Alle Menschen um mich herum wurden starr und fixierten mich. Was macht die da? Was traut die sich?
    Dabei war ich doch ganz freundlich und sagte nur: „Sie haben es aber wirklich sehr eilig.“ Ich lächelte ihn an.
    „Tut mir leid“, stotterte er verwirrt. „Ich war sehr unhöflich. Es tut mir leid.“ Demütig ging er ans Ende der kurzen Schlange.
    Ich fühlte keinerlei Genugtuung. Es war einfach so selbstverständlich, dass es aus mir herauskam. Ich hatte nichts dazu getan.
    Die nächste Woche war die Entscheidungswoche. Am Sonntag würde der Frankfurt Marathon stattfinden. Ich hatte mich für diesen Lauf gemeldet und war heiß. Richtig heiß.
    Nachdem ich an der Kasse bezahlt hatte, fuhr ich nach Hause. Das Garagentor war offen. Merkwürdig. Aber egal. Ich fuhr hinein und schleppte die
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