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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler
Autoren: Becky Masterman
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genügend Zeit geben, um herauszufinden, was er mit diesem einen Wort gemeint hatte.
    Er schloss die Augen, und Chrystal warf mich einfach aus dem Zimmer.

54.
    Durch den Verzicht, seinen Verdacht gegen mich unverzüglich zu melden, hatte Max bereits eine Grenze überschritten. Mit ein bisschen Glück würde er auf meiner Seite bleiben. Ich würde ihn später daran erinnern, dass ich Emery getötet hatte, um sein Leben zu retten. Okay, der letzte Teil entsprach nicht ganz der Wahrheit – zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, Max wäre tot und ich würde lediglich die Schuld auf mich nehmen, um Laura Colemans Leben und ihre Karriere zu retten und Buße zu tun für einige meiner eigenen Fehler. Doch wenn die Lüge ihren Zweck doppelt erfüllen konnte, würde ich sie erst recht nicht widerrufen.
    Mir blieb jetzt noch, den Rest des Nachmittags mit Carlo durchzustehen und irgendwie das Abendessen zu bereiten, zu essen und hinterher zu lesen, als würde das Leben einfach so weitergehen.
    Doch nach dem abendlichen Spaziergang mit den Hunden, zu der Zeit, wo wir normalerweise in unsere Bademäntel schlüpften, eine warme Milch tranken und uns eine langweilige Fernsehsendung anschauten, wurde die Stimmung angespannt. Schließlich nahm Carlo die Wagenschlüssel vom Haken neben der Tür zur Garage. »Komm, es ist Zeit für eine Spazierfahrt«, sagte er.
    Ich musste gegen meinen Willen kichern – es klang nach aufkeimender Hysterie. »Gütiger Himmel, genau das sagen sie dir, wenn sie dir eins verpassen wollen.«
    »Bitte leg deinen Schutzpanzer ab, Liebling«, erwiderte Carlo mit mehr Traurigkeit als Zorn in der Stimme. »Unsere Ehe steht auf dem Spiel.« Er öffnete die Tür und ließ mich zuerst gehen.
    Ich stieg in seinen Volvo, und wir fuhren schweigend die Golder Ranch Road hinunter und auf der Oracle nach Süden. Nachdem wir den Oro Valley Market an der Ecke Oracle und Tangerine passiert hatten, bog Carlo plötzlich nach links ab, in Richtung der Berge und der Dunkelheit des Catalina State Parks. Es war die Stelle, an der wir schon früher gewesen waren und wo Emery Bathory auf mich geschossen hatte, doch ich war noch nie nachts im Park gewesen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass man nach Sonnenuntergang noch hineinkam.
    Ohne aufzublenden fuhr Carlo langsam über die gewundene schmale Asphaltstraße zum Parkplatz, von wo sämtliche Wanderwege sternförmig abzweigten. Bevor er das Scheinwerferlicht ausschaltete, sah ich als Letztes eine handtellergroße schwarze Spinne, die über den Weg krabbelte.
    Wir saßen eine Zeit lang in völliger Dunkelheit, und keiner konnte das Gesicht des anderen sehen. Ich wartete darauf, dass er anfing zu reden. Schließlich war das hier seine Schau. Ich war zu niedergeschlagen und zu erschöpft, um ihm zu helfen. Während ich wartete, gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich konnte Carlos Profil im Wagen zwar immer noch nicht sehen, doch ich erspähte die Umrisse der Berge im Osten, eine sternenlose, dunkle Silhouette. Dann tauchte ein wundervoller, weißblau schimmernder Streifen auf, der sich schemenhaft über den ganzen Himmel zog und den Carlo einmal als »Milchstraße« bezeichnet hatte. Man kann keine einzelnen Sterne erkennen, denn ihr Licht ist zu schwach, aber es ist ein gigantisches Gebilde.
    »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, sagte Carlo schließlich.
    »Du bist nett. Du kannst nicht anders.«
    »Was ich sagen will … Wenn man so lange mit Lügen gelebt hat, dann weiß man nicht, wie man die Dinge ausdrücken soll, sodass einem geglaubt wird. Es ist schwer zu erkennen, was die Wahrheit ist.«
    Niemand wusste das besser als ich. »Carlo – ich bin todmüde. Alle Kochen tun mir weh, und ich kann noch immer keinen klaren Gedanken fassen.«
    »Ja«, sagte Carlo, »das ist mir bewusst. Deshalb sind wir heute Nacht hier, während es dunkel ist und deine Fassade unten. Es ist wahrscheinlich das einzige Mal, seit wir uns kennen, dass ich die Oberhand habe. Glaube nur nicht, ich wäre stolz darauf.«
    »Du wolltest es nie wissen«, sagte ich und hasste den weinerlichen Ton in meiner Stimme. »Ich habe nur das getan, was du von mir erwartet hast.«
    Er klang ebenfalls betrübt. »Es war nicht das, worüber du vielleicht geredet hättest, was mir Sorgen gemacht hat. Du selbst warst es.«
    Ich nickte, ohne zu widersprechen, um ihn am Reden zu halten. Wie ich bereits bei Emery bewiesen hatte – wenn das eigene Leben bedroht ist, hat man eine Chance davonzukommen,
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