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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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fragte der alte Mann. Die Vorleserin hielt ihm den Artikel hin, zusammen mit seiner Lupe.
    »Hier sieht man den Chor vor einem Bautrupp stehen«,
sagte sie, »mit der Dirigentin in der Mitte. Und rechts unten«, fuhr sie fort, »sieht man sie allein.«
    Der Alte hielt seine Lupe über das Gesicht der Frau, die unter ihrer Ordenshaube frisch und unverbraucht aussah.
    »Sor Afra«, murmelte er, »die Schwarze … gut gemacht, Bianca.«
    »Kennen Sie sie?« fragte die Vorleserin verwundert.
    Statt einer Antwort bat sie der alte Sänger, die CD aufzulegen, die er seinerzeit mit Biancas Lehrer aufgenommen hatte.
    »Bitte die Nummer 13«, sagte er, und als wenig später seine eigene Stimme zu singen anhob »Ich liebe dich, so wie du mich«, unterlegt von den behutsamen Sechzehnteln des Pianisten, summte er leise mit, gab mit den Händen den Takt an, und als die letzte Strophe erklang mit dem Vers »Drum Gottes Segen über dir, du meines Lebens Freude … «, schrie er plötzlich: »Stärker, spiel doch stärker, du Idiot, forte musst du spielen, fortissimo, sonst kann ich das nicht singen!« und schlug mit geballten Fäusten auf die Armlehnen.
    Erschrocken drehte die Vorleserin die Lautstärke auf, aber der Sänger winkte ab, wandte sein Gesicht wieder zum Fenster, und vor seinen feuchten Augen zerflossen die Forsythien im Park zu großen, gelben Flecken, die langsam davonschwammen.

DER STEIN
    E twas platzte.
    Etwas tanzte durchs Dunkel.
    Ein Tosen. Ein Krachen. Ein Rauschen.
    Sternenherzklopfen. Gestirngelächter.
    Etwas glomm.
    Etwas gloste.
    Etwas barst.
    Galaktischer Donner. Zeitgeburt.
    Etwas wurde herausgeschleudert.
    Etwas ballte sich.
    Etwas drehte sich.
    Etwas kreiste.
    Da war sie, die Erde, von niemandem gesehen, von niemandem gehört, von niemandem gerochen. Schutzlos schwebte sie im Hagel des Universums, das sich immer noch selbst gebar und das aus seinen Urlungen Meteoriten hustete, die bargen Atem in sich, die bargen Tropfen in sich, die blieben auf der Erde zurück, und langsam
verbreitete sich Luft, und langsam verbreitete sich Wasser.
    Jahrmillionen.
    Die Hitze im Innern der Kugel strebte nach außen, immer mehr Feurigflüssiges begann sich zu verfestigen, die Erde zog sich einen steinernen Mantel an. Er wurde von Ozeanen überflutet, doch Sockel und Platten stießen nach oben, breiteten ihre Küsten aus unter dem Licht der Sonne und luden zum Leben ein.
    Jahrmillionen.
    Im Wasser begann es zu zucken und zu zappeln, Lebendiges nährte sich von dem, was Gesteine und Wasser abgaben, und von anderm Lebendigen.
    Jahrmillionen.
    Pflanzen zeigten sich, Farne schlugen Wurzeln im Boden, Insekten krabbelten an ihren Stängeln. Aus den Meeren hoben Lurche ihre Köpfe, krochen ans Land, schauten sich um und nahmen die Einladung an. Flossen verwandelten sich in Füße. Reptilien schleiften ihre schuppigen Bäuche durch die Sümpfe. Nadelhölzer versuchten Fuß zu fassen.
    Jahrmillionen.
    Eiswinde lösten sich mit dem heißen Hauch von Monsunen ab. Der Entstehung von Leben folgte das Aussterben von Leben.
    Dinosaurier brüllten und erlagen ihrer eigenen Größe, Vulkane feuerten ihre Botschaft aus der Tiefe in die Höhe und erloschen, Vögel erhoben sich in die Lüfte und kreisten über den Erdteilen, die von den Kräften des Wärmezerfalls
stetig auseinandergetrieben wurden. Zum Ei als Brutgefäß kam die Gebärmutter, neugeborene Tiere saugten Milch aus ihrer Mutter, Fledermäuse schwirrten durch die Urwälder und starben nicht mehr aus.
    Jahrmillionen.
    Ständig drängte neue Unruhe aus dem Erdinnern nach oben, abgekühlte Gesteinsmassen suchten das Licht, die Kontinente wuchsen und brachen auseinander, dazwischen schossen gurgelnd neue Meere, unter denen sich Felsbastionen so lange aneinander stießen und drückten, bis sie sich übereinanderschoben, bis sie sich aus den Wassern aufrichteten und zu Gebirgszügen erhoben.
    Jahrmillionen.
    Die Alpen entstanden. Ein Kampf unter Gesteinsgiganten, Gneis, Granit, Schiefer, Kalk, Dolomit ihre Namen. Aus den Wüsten des Südens war einer gekommen, um am Ringen teilzunehmen, Verrucano, der Alte, von rötlicher Farbe, ein Sohn von Feuermutter Magma, der warf sich auf die Jüngeren und presste sie nieder, bis sie sich ergaben. Doch wer den obersten Platz einnahm, war Stürmen, Hagel, Schnee und Eis am stärksten ausgesetzt und verwitterte rascher, hier und dort brach ein Stück aus dem Riesen heraus und donnerte in die Tiefe, und seine Brocken zerfielen zu Geröll.
    Noch
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