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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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aufzutragen, da ihn dies, der
Nähe wegen, in der Konzentration störe. Nun hätte er ja auch männliche Studenten gehabt, er zog es aber eindeutig vor, sich von jungen Frauen die Seiten wenden zu lassen. Und das war, was den Anblick betraf, den die Konzertierenden boten, sicher nicht falsch. Wenn zusammen mit zwei eher beleibten Herren, die ihre Rundungen zwar durch Fräcke und bauschige weiße Hemden etwas zu cachieren vermochten, eine schlanke, anziehende Frau wie Bianca dabei war, hellte dies die Stimmung unmerklich auf, denn auch wenn es bei Konzerten in erster Linie ums Hören geht, sitzen doch die wenigsten Besucher mit geschlossenen Augen da, und das Sehen spielt eine größere Rolle, als die meisten zugeben würden.
    Ihr Lehrer trat außerordentlich gern mit Bianca auf, sie war diskret und präsent zugleich, und es war spürbar, dass sie die Noten nicht einfach ablas, sondern innerlich mitspielte und ihn dadurch auch anfeuerte. Da sie seine Schülerin war, machte er nach einem Konzert ab und zu eine Bemerkung, wenn er etwa einer Stelle eine andere Nuance gegeben hatte, und er konnte gewiss sein, dass es ihr nicht entgangen war. War ihm etwas nach seiner Meinung weniger gut gelungen, sagte sie ihm sofort, welche Passage dafür unübertrefflich gewesen sei. Gelegentlich fragte er sie um ihre Meinung zu einer Interpretation, und ihre Kommentare waren von großer Treffsicherheit. Äußerte sie einen Zweifel, war es meistens dort, wo auch er eine leise Unsicherheit empfand, und wo sie bestätigte, war auch er seiner Sache sicher. Er gewöhnte sich so an sie, dass er seiner früheren Seitenwenderin, als sie aus
dem Ausland zurückkam, beschied, er wolle lieber mit Bianca weiter arbeiten.
    »Meine wunderbare Unsichtbare«, nannte er sie im Scherz, aber ganz so unsichtbar war sie nicht. Es entwickelte sich sogar ein kleiner Club von Bewunderern, die vor allem zu den Auftritten des Pianisten kamen, um sich am Anblick Biancas beim Seitenwenden zu erfreuen. Unter den jüngeren Konzertgängern gab man sich den Tipp weiter, und während einiger Jahre war es in der Klassikszene Zürichs Kult, »zu Bianca« zu gehen; nicht selten warteten am Hinterausgang der Tonhalle oder eines anderen Konzertsaales neben den Autogrammjägern für den berühmten Sänger und seinen Begleiter drei oder vier junge Männer, welche Bianca zu einem Glas Wein einladen wollten. Sie amüsierte sich darüber, ging auch gerne mit, war aber allen weiteren Annäherungsversuchen gegenüber resistent.
    Sie arbeitete hart an ihrer Ausbildung, konnte das Lehrdiplom erwerben und in die Meisterklasse eintreten, womit sie ihrem Ziel, dem Konzertdiplom, einen Schritt näher war. Sie hatte ihre Tätigkeit fast ganz nach Zürich verlegt, unterrichtete nun auch einige Klavierschüler und war von der Unterstützung ihrer Mutter unabhängig geworden.
    Ihr Lehrer stieg in dieser Zeit zum bevorzugten Begleiter eines berühmten Liedinterpreten auf, und die beiden wurden für Auftritte in ganz Europa engagiert. Dank dieses Bekanntheitsgrades konnte er sich häufig die Begleitung seiner eigenen Seitenwenderin ausbedingen, die
er nun immer besser bezahlte, und so kam es, dass sie nicht nur zusammen nach Paris, Frankfurt, München oder Wien reisten, sondern dort auch im selben Hotel übernachteten, und in einem dieser Hotels geschah es dann, dass der Meister nachts noch an Biancas Tür klopfte und das Zimmer erst wieder am Morgen verließ. Bianca wusste, dass er verheiratet war, es war ihr auch klar, dass er ihr Lehrer war, und dennoch passierte ihr das Unerklärliche, dass sie sich auf ihn einließ. Vielleicht fühlte sie sich weniger von ihm selbst als vom Fallen der Schranken angezogen.
    Unter der Liaison, die nun entstand, litt die Disziplin ihrer Auftritte keineswegs, weder bei ihr, welcher ohnehin der leichtere Teil der Aufgabe zufiel, noch bei ihm, den Biancas Anwesenheit geradezu beflügelte. Die beiden beflissen sich bei ihren Treffen einer strikten Heimlichkeit, denn ihr Lehrer wollte, was er Bianca bald klarmachte, sein Familienleben keinesfalls gefährden. Dies lag auch gar nicht in ihrer Absicht, sie nahm die gelegentlichen Nächte, wie sie kamen, und empfand eine merkwürdige Freude daran, mit jemandem, der dafür gar nicht in Frage kommen durfte, ein Doppelleben zu führen. Sie vermutete, dass nicht einmal der Sänger etwas davon wusste, umso mehr, als sie nie zusammen ein Doppelzimmer nahmen und sich ungerührt siezten, sei es vor dem Konzert in der
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