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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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Garderobe oder am Frühstückstisch im Hotel.
    Auf den Tourneen übernahm sie mit der Zeit die kleinen Künstlerbetreuungsaufgaben, sie sorgte dafür, dass
sein Frack gebürstet und sein Hemd frisch geplättet war, dass seine Schuhe glänzten und dass vor dem Auftritt ein Glas frisch gepressten Orangensaftes in der Garderobe bereitstand. Zudem durfte das kleine Etui mit den Flaschenkorken nicht fehlen, die er sich jeweils eine Viertelstunde vor dem Konzert zwischen die Finger steckte, um diese geschmeidiger zu machen. Auch hinter der Bühne bemühte sie sich um Unsichtbarkeit. Wenn sie zu dritt in einer Garderobe waren, was gelegentlich vorkam, und der Sänger vor dem Auftritt seine Stimmübungen machte, den Kiefer lockerte und dazu lallende Laute ausstieß, hechelte wie ein Hund, sich die Augenbrauen und die Wangenknochen massierte oder eine kleine Terz unbarmherzig in die Höhe trieb und sie von dort langsam bis in die Kellerräume seines Baritons hinuntersteigen ließ, saß sie entweder unbewegt in einer Ecke oder verließ den Raum, um sich im Korridor die Füße zu vertreten. Der Sänger schätzte dies, nahm aber im Übrigen wenig Kontakt mit ihr auf, sondern blieb stets in einer freundlichen Distanz.
    Bianca verfolgte indessen zielbewusst ihr berufliches Fortkommen und übte mit außerordentlichem Fleiß in einem Studioraum, den sie mit einem Kollegen zusammen gemietet hatte. In ihrer Familie kam es zu großen Veränderungen. Ihr Bruder studierte in Lausanne Maschineningenieur, und ihre Mutter heiratete zur Überraschung ihrer Kinder einen lombardischen Kirchenmusiker und zog zu ihm nach Mailand. Bianca und Roberto gestanden einander, dass sie ihre Mutter viel
mehr als Mutter denn als Frau angesehen hatten und irgendwie davon ausgegangen waren, dass sie immer daheim in der vertrauten Wohnung auf sie warten würde, wenn sie wieder einmal kämen. Nun wurde die Wohnung in Bellinzona aufgelöst, und die drei sahen sich nur noch selten, meistens an den Feiertagen, und auch die waren oft durch Auftritte ihrer Mutter, meist mit ihrem neuen Mann, beeinträchtigt.
    Ein knappes halbes Jahr vor den Abschlussprüfungen Biancas kam es dann zu einem denkwürdigen Ereignis. Im Mozartsaal der Liederhalle Stuttgart war ein Konzert angesagt, in welchem ihr Lehrer den Sänger bei einem Abend mit den schönsten Liedern der deutschen Klassik begleitete. Es war das Ende einer kleinen Deutschlandtournee, die 750 Plätze waren seit langem ausverkauft, die Stimmung war festlich und erwartungsfroh.
    Umso größer die Bestürzung, als ihr Lehrer, der sich schon beim Hinsetzen auf den Klavierstuhl mit seinem Taschentuch die Stirn gewischt hatte, während des ersten Liedes vornüber auf die Tasten des Flügels sank, der statt der Schubert-Akkorde einen bösen Cluster von sich gab. Mit Mühe konnte ihn Bianca so stützen, dass er nicht neben dem Instrument zu Boden fiel, in der zweiten Reihe sprang ein Arzt auf, erstieg die Bühne, legte den Pianisten mit Biancas Hilfe seitlich auf den Boden und öffnete ihm den Kragen, dann erschien der Notarzt des Hauses, gefolgt von zwei Sanitätern mit einer Bahre, und der Unglückliche wurde weggetragen. Der Abendintendant trat an die Rampe und bat das Publikum, sitzen zu bleiben,
bis geklärt sei, ob das Konzert trotzdem stattfinden könne. Der Sänger und Bianca verließen die Bühne, um in der Garderobe vom Notarzt zu hören, dass der Pianist, der noch nicht bei Bewusstsein war, offenbar einen schweren Kollaps erlitten habe und auf keinen Fall weiterspielen könne.
    Der Veranstalter hatte bereits einen bekannten Stuttgarter Pianisten angerufen und erfahren, dass dieser gerade in München konzertiere. Der Sänger war verstört und unglücklich, Veranstalter und Intendant waren ratlos. Da trat Bianca zu den dreien und sagte, sie kenne die Lieder sehr gut und würde sich anerbieten, einzuspringen. Auf den kritischen Blick des Veranstalters sagte sie, sie sei in der Meisterklasse, stehe kurz vor dem Abschluss, sie sei mehrmals bei diesem Abend als Seitenwenderin dabei gewesen, kenne die Interpretation ihres Lehrers und traue sich zu, die Lieder so zu begleiten, dass sich der Sänger wohlfühle.
    Nach kurzer Beratung trat der Abendintendant wieder auf die Bühne, um dem Publikum mitzuteilen, der Pianist werde ärztlich betreut, könne aber nicht weiterspielen, und die Schülerin aus seiner Meisterklasse, Frau Bianca Carnevale, die ihm sonst die Seiten gewendet hätte, sei bereit, für ihn die Begleitung
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