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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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zwanzig Millionen Jahre bis Menschenaugen zu den Bergen hinaufblicken und ängstlich in andere Augen blicken, wenn das Rumpeln von Felsstürzen zu hören ist.
    Gletscher dehnen sich aus, ziehen sich wieder zurück, dehnen sich erneut und treiben die Menschensippen in
ihrer Nähe auf die Suche nach freundlicheren Gegenden. Einer davon, der sich zu Füßen des alten Verrucano breitmacht, nimmt dessen Geröllschutt mit auf die Wanderschaft, und auf seiner mehrtausendjährigen Wachstumsreise hat er genügend Zeit, den Steinen mit seinem Eisdruck die Kanten abzuschleifen, und als ihm die Zunge abzuschmelzen beginnt und es auf den Heimweg geht, lässt er sie alle liegen. Er lässt auch eine Mulde für ein Seebecken zurück, langsam bedeckt sich das Gletschervorfeld mit Erde, auf der Gras und Bäume wachsen, die Mulde füllt sich mit Wasser, und auf einem Hügel an ihrem Ausfluss errichten Kelten eine Siedlung, die später von den Römern zu einem Kastell ausgebaut wird: Turicum.
    Es ist anzunehmen, dass ein Stein nichts fühlt, dass er nichts hört und nichts sieht. Sonst müsste man sagen, der Stein, der vor zwanzigtausend Jahren mit dem Linthgletscher nach Zürich gekommen war und hier mit Erde überdeckt wurde, hatte ein eintöniges Leben, denn er blieb unter dem Boden liegen, durch Erde von seinen Reisegefährten getrennt, vielleicht stieß ihn ab und zu die Schnauze eines Maulwurfs an, vielleicht streifte ihn gelegentlich ein Regenwurm, aber von dem, was über der Erde vor sich ging, spürte er nichts. Karl der Große gründete das Großmünster ohne ihn, die Enthauptung Hans Waldmanns war ihm ebenso gleichgültig wie die Predigten Huldrych Zwinglis, und die Kanonenschüsse, mit welchen die Franzosen während der Koalitionskriege die Russen und Österreicher aus der Stadt vertrieben, drangen
nicht in die Tiefe des Bodens und wären auch nur ein Bruchteil des Polterns gewesen, mit dem sich im Paläozän die Penninische Decke über die europäische Kruste geschoben hatte.
    Ein Stein denkt nicht, ein Stein freut sich nicht, ein Stein trauert nicht, ein Stein hat keinen Hunger, ein Stein hat keine Angst, ein Stein liebt nicht, ein Stein hasst nicht, ein Stein hat weder Freunde noch Feinde. Ein Stein handelt nicht. Er tut nur, was andere Kräfte mit ihm tun, die Fliehkraft, die Schwerkraft. Er kollert, sagt man, wenn er vom Erdhaufen eines Aushubs herunterrollt. Eigentlich aber wird er gerollt und wird er gekollert.
    Als ihn nun eine Baggerschaufel unter dem aufgerissenen Straßenbelag hervorholt und auf einen Bauschuttcontainer wirft, denn die Kanalisation wird erneuert, kommt er zum ersten Mal seit zwanzigtausend Jahren wieder ans Tageslicht. Gerne würden wir ihn aufatmen und die Frische des Frühlingstags genießen lassen, wenn wir nicht wüssten, dass das eine unzulässige Vermenschlichung wäre. Zudem ist er von einer Dreckschicht überzogen, und auch wenn diese über das Wochenende, an dem er zuoberst auf dem Haufen liegt, langsam vertrocknet, etwas abbröselt und den rötlichen kieselförmigen Ackerstein darunter hervorschimmern lässt, bleibt es dabei: Der Stein fühlt nichts.
    Der vierzehnjährige Junge aus einer Vorortsgemeinde, der zusammen mit einem Klassenkameraden am Nachmittag des 1. Mai nach Zürich gekommen ist, weil er gehört hat, dass hier Unerhörtes passiert und dass man an
diesem Unerhörten teilnehmen kann, ist schon eine Stunde lang mit Vermummten herumgerannt, hat die Kapuze seines T-Shirts hochgezogen, hält sich das Taschentuch vors Gesicht, während er einem Tränengasnebel zu entkommen versucht, der von einer Front blauer Marsmenschen stammt, die hinter Schilden in Helmen und Gasmasken über die ganze Breite der Straße vormarschieren. »Sauhünd!« und »Nazi!« hört er links und rechts von sich schreien. Da kommt er am Container vorbei, hält einen Moment an, packt den Stein, dreht sich um und schleudert ihn gegen die Verfolger.
    Der Stein gehorcht den Gesetzen der Physik, die ihn auf eine durch die Abschusskraft und die Zielrichtung bestimmte ballistische Kurve senden. Er prallt nicht auf einen Uniformierten, sondern auf ein fliehendes Mädchen, das in eine Seitenstraße getrieben wird. Das Mädchen, am Kopf getroffen, stürzt zu Boden, zwei Polizisten knien nieder, ein anderer ruft per Funk einen Sanitätswagen.
    Der Vierzehnjährige kann sich in einen Hausdurchgang drücken, spurtet über den Innenhof und auf der andern Seite wieder hinaus und geht dann mit der Langsamkeit des
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