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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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Unbeteiligten in die Richtung des Hauptbahnhofs. Er presst sich das Taschentuch auf die Augen und wischt sich die Tränen ab, die einen beißenden Geruch haben, aber es kommen immer mehr Tränen, die nicht mehr nach Gas riechen. Er muss sich auf einen Schaufenstersims setzen. Er möchte, dass das nicht geschehen ist, was gerade geschah.

    Aber es ist geschehen. Das Mädchen wird in die Notfallaufnahme des Universitätsspitals gefahren. Ein Polizist hat den Stein auf die Bahre gelegt. Der Arzt, der das Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert, lässt ihn von einer Pflegerin waschen und vergleicht ihn mit der Wunde. Für die Gerichtsmedizin wird die Verletzung unter »Einwirkung stumpfer Gewalt« fallen.
    Der Vierzehnjährige, dessen Eltern nicht zu Hause sind, schaltet am Abend zitternd vor Angst die Nachrichten ein und vernimmt, dass es Sachschäden von mehreren hunderttausend Franken gegeben habe und dass eine junge Frau durch einen Steinwurf schwer verletzt wurde. Als er hört, sie sei außer Lebensgefahr, atmet er auf und lässt sich weinend aufs Bett fallen. Er wird niemandem davon erzählen, und er will so etwas nie wieder tun.
    Nach einer Operation und einem längeren Klinikaufenthalt erholt sich das Mädchen langsam wieder. Auf Betreiben seiner Eltern wird Anklage gegen Unbekannt erhoben, aber die Untersuchung ist aussichtslos und wird irgendeinmal eingestellt. Der jungen Frau wird der Stein auf ihr Verlangen ausgehändigt, und sie behält ihn.
    An ihrem 18. Geburtstag lässt sie sich von ihrem Freund in die Mitte des Sees hinausrudern, nimmt dann den Stein aus ihrer Tasche und wirft ihn ins Wasser.
    Und da versinkt er langsam und treibt noch einige Blasen nach oben, bevor er in der Tiefe verschwindet.
    Ein Stein tut das, was mit ihm getan wird.
    Jetzt ist er auf dem Grund des Beckens angekommen.
Ein bisschen Schlamm wird aufgewühlt und zeigt an, wo nun sein Platz ist.
    Ein Stein erinnert sich nicht. Ein Stein träumt nicht. Ein Stein hofft nicht.
    Man kann nicht einmal sagen, dass er wartet.

1. Auflage
    © 2011 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Greiner & Reichel, Köln
     
    Alle Rechte vorbehalten.
    eISBN 978-3-641-08136-2
     
    www.luchterhand-literaturverlag.de
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