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Der Spiegel aus Bilbao

Der Spiegel aus Bilbao

Titel: Der Spiegel aus Bilbao
Autoren: Charlotte MacLeod
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»Balaclava«-Romanen ist dies in der Tat
bisweilen so, in ihrer »Boston«-Serie nie. Sie ist ein klassisches Exempel
dafür, was Richard Alewyn die »Zerstörung einer heilen Welt« genannt hat. Als
Sarah mit Max im Fundament des im Zusammenhang mit den rätselhaften Ereignissen
niedergebrannten Bootshauses die dort eingemeißelte Jahreszahl 1887 entdeckt,
weiß sie, daß nach fast 100 Jahren eine Epoche zu Ende gegangen ist und daß die
Dinge nie mehr sein werden, wie sie so lange waren.
    Um Max’ willen muß sie
Mißtrauen gegenüber jedermann entwickeln, auch gegenüber den eigenen Verwandten
und Bekannten. Wie schwer ihr das fällt, zeigt der Ausflug nach Little Nibble,
wo die Ganlors noch die Ideale der Transzendentalisten aus dem 19. Jahrhundert
hochhalten, die für das bessere Neuengland stehen: Wertschätzung des Geistigen,
des »Idealistischen« gegen britischen Skeptizismus und vor allem gegen den
schnöden Materialismus. Hochachtung und Freundschaft verbinden die reichen
neuenglischen Aristokraten mit diesen Vertretern des einfachen, des geistigen,
des alternativen, des besseren Lebens — aber werden diese Werte tatsächlich
noch geachtet? Von den Ganlors sicherlich — doch wie steht es mit der
Yachtclub-Meute? Wie echt ist dort alles, was ist Fassade, die zusammenbrechen
kann?
    Charlotte MacLeod nutzt, wie
schon in den früheren »Boston«-Romanen, den extremen Geiz der
Yankee-Aristokraten zur Konstruktion einer doppelbödigen Welt. Sarah mußte das
im ersten Roman erfahren: Was sie selbst als Insider, als eine Kelling Kelling,
für extreme Kellingsche Sparsamkeit gehalten hatte, entpuppte sich als
bitterste Armut infolge von Erpressungen. Wie wirklich ist der Reichtum, dessen
selbstverständlicher Ausdruck die Sommersitze und Landhäuser und
Beacon-Hill-Residenzen sind? Steht es vielleicht damit so wie mit ihrem
vornehmen Beacon-Hill-Haus oder ihrem Sommersitz — verpfändet und mit
Hypotheken überlastet, jederzeit vom Zusammenbruch von einem Tag auf den
anderen bedroht? Gibt es die Vermögen noch, aus denen die luxuriösen Yachten
auf dem Atlantik finanziert werden? Sind die bitteren Klagen ihres Vetters
Lionel, das Trocknen der Schlafsäcke im Waschsalon habe zwei Dollar und
fünfundsiebzig Cent verschlungen, Yankee-Geiz oder wirklich Folge der
schlechten Börsenkurse und der hausgemachten Familienkrise, über die er ständig
klagt? Wie steht es mit den anderen Bekannten von Sarah, die alle klagen, bald
im Armenhaus zu enden? Immerhin waren die beiden Mordopfer nicht nur Besitzer
und Bewahrer von Kunstgegenständen, woran die Polizei im Zusammenhang mit der
Diebstahlserie vor allem denkt, sondern auch ganz schlicht kinderlose,
wohlhabende oder gar reiche Erblasser, mit denen fast jeder aus der
Yachtclub-Clique verwandt oder verschwägert war — sogar Sarah selbst. Könnte da
nicht einer der potentiellen Erben den Tod künstlich vorverlegt haben? Und wie
steht es mit den rauhen, aber herzlichen Bediensteten, den Ortsansässigen, den
seit Generationen treuen Lehns- und Gefolgsleuten? Könnte da nicht auch in der
nachwachsenden Generation die einst selbstverständliche — selbstverständlich
auch angemessen bezahlte — Loyalität verlorengegangen sein?
    Der Detektivroman zeigt eine
Welt, die durch Verbrechen und Morde fragwürdig wird, wortwörtlich Fragen über
Fragen aufwirft. Sarah muß alle diese Fragen bejahen. Und nach dieser Probe
wird diese friedliche Welt der Ferien, der Yachten und der Sommersitze nie mehr
dieselbe sein.
    Sarahs und Max’ Beziehung
übersteht die harte Probe, der sie unterworfen wird — soviel darf hier verraten
werden. Vielleicht bringen sie die massiven Probleme sogar schneller zusammen
als der friedliche Sommer, den sie für sich erhofft hatten. Doch wie wenig der
Detektivroman von der Wiederherstellung einer heilen Welt erzählt, wird am
Schluß deutlich. Sarah hat im heimischen Boston bei den diversen Onkeln,
Tanten, Vettern und Cousinen des Kelling-Clans durchgesetzt, daß Max akzeptiert
wird, bei den Mitgliedern des Yachtclubs hat sie es diesen Sommer erkämpft.
Aber das größte Problem bleibt noch auf der letzten Seite ungelöst: Wie bringt
man der streng konservativen jüdischen Mutter von Max Bittersohn bei, daß ihre
Schwiegertochter ausgerechnet eine angelsächsische Protestantin
blauweißrotesten Blutes ist und ihre Enkel deshalb nach jüdischer Vorstellung
keine Juden sein werden? Fragen über Fragen — sie zeichnen den Detektivroman
aus.
     
    Volker
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