Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Amanda Howells
Vom Netzwerk:
hochgewachsenen Gestalt.
    »Was macht das Ballett?«, fragte ich. Corinne tanzte schon ihr Leben lang und trainierte für die Aufnahme als Profi im renommierten Jungtänzerprogramm des New York City Balletts. Einmal hatte ich sie im Lincoln Center im ›Nussknacker‹ tanzen sehen. Bei der Bewerbung um die Rolle der Clara war sie unter Hunderten kleiner Mädchen ausgewählt worden, und es war offensichtlich, warum: Corinnes Sprünge waren hoch und lautlos, ihre Pirouetten schwindelerregend schnell und perfekt, und selbst wenn sie nicht tanzte, spürten die Zuschauer ihre Persönlichkeit. Man merkte, dass sie nirgendwo sonst auf der Welt sein wollte.
    »Erwähne bloß nicht das B-Wort«, erwiderte Corinne. »Eigentlich sollte ich dieses Jahr ins Ensemble aufgenommen werden, aber ich habe bei der Aufnahmeprüfung gepatzt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mom wäre deswegen beinahe aus dem Fenster gesprungen, aber was soll’s.« Scheinbar gleichgültig warf Corinne die Haare in den Nacken. »Ich gehe diesen Sommer nicht mal ins Training. Ich habe diese ganze Szene im Moment so satt.«
    »Tut mir leid«, murmelte ich und sah Corinne forschend ins Gesicht, auf der Suche nach Anzeichen des Bedauerns, aber falls sie es verspürte, verbarg sie es gut.
    Stattdessen sprang sie auf und lehnte sich wieder aus dem Fenster. »Willst du eine Kippe?«, fragte sie und zog eine Packung Marlboro aus der Hosentasche.
    »Deine Mutter kann jeden Moment reinkommen!«, mahnte ich, ohne hinzuzufügen, dass ich nicht rauchte. Corinne hatte es garantiert erraten.
    »Beruhige dich«, sagte sie lapidar, zündete die Zigarette an, inhalierte und blies den Rauch zum Fenster hinaus. »Sie sind zum Fischmarkt gegangen. Außerdem weiß Mom Bescheid, und es ist ihr egal, glaub mir.«
    Tante Kathleen sollte es egal sein, dass ihre Tochter rauchte? Das konnte ich nicht glauben. Tante Kathleen war die fürsorglichste Mutter der Welt. Oft hatte ich mir insgeheim gewünscht, sie wäre meine Mutter. Sie war immer so lustig und nett, sie liebte ihren Mann und ihre Töchter und interessierte sich für alles, was die Mädchen taten. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die ständig auf meinem Vater herumhackte und der es widerstrebte, sich bei Schwimmwettkämpfen oder Ausstellungen von Wissenschaftsprojekten blicken zu lassen. Nicht, dass das Tante Kathleens Welt gewesen wäre, doch wäre sie meine Mutter gewesen, hätte sie meine – zugegebenermaßen wenig spektakulären – Talente nach Kräften gefördert. Sie wäre stolz auf mich gewesen.
    »Wenn’s um Drogenmissbrauch geht, sollte meine Mutter sich erst mal an die eigene Nase fassen«, erwiderte Corinne und starrte ausdruckslos auf das Panorama, das sich vom Fenster aus bot, wobei sie mit einem dünnen Goldreif in Form einer Schlange spielte, der in ihre Ellbogenbeuge gerutscht war. »Sie säuft wie ein Loch.«
    »Wirklich?« Allmählich glaubte ich Corinne nicht mehr. Sie hatte schon immer einen Hang zur Dramatik und zum Geschichtenerzählen gehabt. Vielleicht spielte sie mir nur etwas vor, oder sie wollte mich schockieren oder testen.
    »Hey!«, rief Corinne plötzlich und wirbelte herum. Ihre Augen leuchteten auf. So plötzlich glich sie wieder der alten, lebendigen Corinne, dass ich von dem Hin und Her ganz seekrank wurde. »Nächstes Wochenende, wenn meine Freundin Genevieve kommt, schmeißen wir eine wilde Party. Sie bleibt drei Wochen, vielleicht auch länger. Ihre Familie besitzt auch ein Haus hier in der Nähe, aber es wurde gerade komplett renoviert und ihre Mutter richtet es gemäß Feng-Shui neu ein.«
    »Wow!«, sagte ich und heuchelte Begeisterung, als Corinne weiter von Genevieve erzählte, die mit ihr zusammen auf die Professional Children’s School in Manhattan ging, auf der die Lehrpläne der Schüler ihren Verpflichtungen als Künstler angepasst wurden. Offenbar strebte Genevieve eine Karriere als Schauspielerin an, die sie schon so ziemlich »in der Tasche hatte«, da ihre Mutter ein französisches Model und ihr Vater »Stanley Chu, der Internet-Trillionär« war.
    »Gen ist abgefahren«, verkündete Corinne. »Sie ist eine Klasse über mir, und sie ist komplett verrückt. Einmal hat sie bei ›Wahrheit oder Pflicht‹ ihre Haare angezündet! Ist das nicht heftig?«
    »Heftig«, wiederholte ich, während die andere Hälfte meines Verstands versuchte, diese neue, schizophrene Corinne einzuschätzen.
    »Gen ist wie ein GPS für süße Typen. ›Links abbiegen, süßer Typ‹«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher