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Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Amanda Howells
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schon immer geliebt – ein großer, luftiger Eckraum über der hinteren Terrasse, von dessen Fenstern aus man eine Postkartenaussicht auf die mit Strandgras bewachsenen Dünen und das breite blaue Band des Ozeans dahinter hatte. Tante Kathleen hatte einen Strauß wilder Rosen in einer Vase auf mein Nachttischchen gestellt, und das ganze Zimmer duftete nach Long-Island-Sommer.
    »Ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen, Schatz«, sagte Kathleen liebevoll und nahm meine Hand. »Ich habe dich schrecklich vermisst.«
    »Dito, Lieblingstante.« Ich drückte ihre schmale, elegante Hand, und sie lachte.
    »Ich bin deine einzige Tante«, erwiderte sie und folgte damit einem Ritual zwischen uns beiden, das wir seit meiner Kinderzeit pflegten.
    »Aber trotzdem meine liebste.«
    Tante Kathleen war die ältere Schwester meiner Mutter. Mama war eine Schönheit, aber Kathleen übertraf sie noch. Sie hatte dieselben porzellanblauen Augen wie meine Mutter, so hohe Wangenknochen, dass sie schon gefährlich wirkten, und eine wunderbar glatte Haut, die wie retuschiert aussah. Und dazu besaß Tante Kathleen einen umwerfenden natürlichen Stil. An diesem Tag zum Beispiel sah man sie barfuß und schön in einem einfachen Baumwollsommerkleid und dazu trug sie passend ein silbernes Bettelarmband am linken Handgelenk. Sie erschien so jugendlich, als sie dort in meinem Zimmer stand, man konnte kaum glauben, dass sie älter als meine Mutter war.
    »Und, klappt alles bei euch?« Mama schaute zu uns herein. Sie lächelte, aber ich kannte sie zu gut und entdeckte einen verkniffenen Zug in ihren Augenwinkeln. Nachdem Mama und Tante Kathleen gegangen waren, weil sie sich um das Abendessen kümmern wollten, sandte ich positive Schwingungen aus, in der Hoffnung, dass meine Mutter sich bald entspannen würde. Strand. Meer. Sanfte Brise. Dabei musste sich einfach jeder erholen.
    Solange ich meine Mutter kannte, gehörte diese Gereiztheit zu ihren kennzeichnenden Eigenschaften. In Restaurants litt ich Qualen, wenn meine Mutter in ihrem besonders schnippischen Ton, den sie für Kellner reserviert hatte, zu meckern anfing: »Ich hatte die Salatsoße auf einem Extrateller bestellt.« Sogar Shopping – ihre Lieblingsbeschäftigung – artete dadurch regelmäßig in Stress aus. »Gibt es vielleicht irgendjemanden in diesem Kaufhaus, der etwas von Kundenservice versteht?« Schon immer war es mir peinlich, wenn sie mit gerunzelter Stirn die Angestellten herumkommandierte. Sogar in Billigläden führte sie sich auf wie in einer exklusiven Boutique.
    Seitdem das Wort »Rezession« in aller Munde war, hatte sich die Beziehung zwischen meinen Eltern erheblich verschlechtert. Oft hörte ich spätabends die Stimme meiner Mutter, die, scharf wie geschnittenes Glas, die Wände zu durchbohren schien. »Du hättest verkaufen sollen, als sich die Gelegenheit dazu geboten hat, Chris! Aber Gott bewahre, dass du auch nur einmal auf mich hörst!« In solchen Momenten musste man sich krampfhaft vor Augen halten, dass eine wütende Stimme nicht körperlich verletzen konnte.
    Manchmal glaubte ich, Mama wünschte sich noch immer, sie wäre nach Hollywood gegangen und hätte dort ihr Glück versucht, anstatt gleich nach dem College meinen Vater, einen sanftmütigen Zimmermann, zu heiraten. Mama lernte Papa kennen, als er Kulissen für ein Schultheaterstück baute, in dem sie die Hauptrolle spielte, doch nach ihrer Hochzeit zogen sie in den Süden, damit Papa dort das Familienunternehmen übernehmen konnte.
    Früher habe ich Mama manchmal nach ihren schauspielerischen Ambitionen gefragt. »Ach, das waren doch nur Kleinmädchenträume«, antwortete sie dann, aber ich bin mir nicht sicher, dass sie nicht noch irgendwo, irgendwie ein Teil von ihr waren, den sie lediglich in die Ecke verbannt und zu vergessen versucht hatte, so wie das Foto einer alten Liebe, dessen Anblickt schmerzt, von dem man sich aber noch nicht trennen kann.
    Ich besaß so ein Foto. Von Jake. Die langen schwarzen Haare waren ihm ins Gesicht gefallen und seine etwas unregelmäßigen Zähne blitzten auf, als er in die Kamera grinste. Ich hatte das Bild auf einer Bowlingbahn gemacht. Jake lachte über irgendetwas, was ich gesagt hatte. Ich wusste nicht mehr, was so komisch gewesen war, aber ich wusste noch, wie gut es getan hatte, von ihm angeblickt zu werden und das Gesicht eines Menschen festhalten zu können, den ich liebte und der – so dachte ich damals – meine Liebe erwiderte.
    Doch die
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