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Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Amanda Howells
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großes Paket von ihr für mich ein. Ich wusste, was darin war, war aber noch nicht bereit, es zu öffnen. Ich schob es unter mein Bett und ließ es lange Zeit dort liegen. Ich konnte nicht mal den Gedanken daran ertragen. Doch eines Tages zog ich es hervor und riss die Verpackung auf. Es war eine quadratische Leinwand, etwa sechzig mal sechzig Zentimeter. Bevor ich sie umdrehte, dachte ich daran, wie Simon ausgesehen hatte, als er mir erzählte, dass er an einem besonderen Bild arbeitete. Seine grauen Augen hatten aufgeregt und gedankenverloren geblickt. Ich versuche nur, etwas einzufangen, was ich schön finde.
    Mit Simon an meiner Seite hatte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben furchtlos und schön gefühlt, weil er mich eben so sah – genau wie ich ihn. Klischees sind kitschig, aber sie werden zu Klischees, weil sie wahr sind. Und eines stimmt wirklich: Schönheit liegt im Auge des Betrachters.
    Wie ich in jenem Sommer gelernt habe, trifft das auf vieles zu. Ob Menschen oder Dinge: Die eigene Wahrnehmung macht sie zu dem, was sie sind. Stellt man Menschen auf ein Podest, erscheinen sie einem unerreichbar hoch und weit. Blickt man auf sie hinab, sind sie klein und unbedeutend. Es gibt keine absolute Wahrheit. Es gibt nur den eigenen Blickwinkel und die eigene Erinnerung.
    Und so hat sich Simon erinnert:
    Mit einem Spachtel hatte er dicke, aber geschmeidige Farbschichten aufgetragen, die eine abstrakte Fläche bilden.
    Und doch besitzt das Gemälde auch etwas, was meine Kunstlehrerin Miss Elliot »figurativ« nennen würde – man kann darauf einiges erkennen.
    Alles ist auf das Wesentliche reduziert: das Gold des Sandes, das tiefe, leicht ins Blau spielende Meeresgrün des Wassers. Im Vordergrund und links unten zwei Dreiecke – Dünen. Zwischen ihnen zwei blasse Bögen – angedeutete Knie – und dann trifft der Sand auf den Ozean. Die Farben sind so lebensecht, dass der Blick in den dunkelblauen Tiefen versinkt. Dann hebt er sich wieder empor, wenn das Blau zu Türkis verblasst und sich eine Welle aufschwingt.
    Inmitten dieser Welle steht eine Figur, die Arme hochgereckt, im Sprung eingefangen: ein fleischfarbener Streifen, ein Tupfer dunkles Haar, zwei marineblaue Bikiniträgerstriche über Kreuz auf dem Rücken der Figur. Das bin ich.
    Es ist ein schlichtes Gemälde, aber gerade diese Schlichtheit ist das Kunstvolle daran. Es steckt mehr dahinter als die Farben und die ausgewogene Komposition. Mehr als nur das Bild einer wundervollen Meereslandschaft. Simon hat etwas Vergängliches verewigt: einen vollkommenen, glücklichen Augenblick. In der Ruhe des Arrangements bildet die Schwimmerin, die in die Welle taucht, das dynamische Zentrum. Mit wenigen Pinselstrichen hat Simon ein Gefühl dargestellt: diese Erregung, kurz bevor eine Welle gegen einen brandet, die pure Sommerenergie.
    Er konnte es nicht mehr fertigstellen. Ein Stück Ozean und Strand fehlen, eine weiße Stelle klafft im Gemälde. Ich glaube zu wissen, wie Simon es vervollständigt hätte – er hätte nur noch ein wenig Wasser und Sand hinzugefügt und die Landschaft leer gelassen außer der winzigen Figur in der Mitte und den Knien des Beobachters, die zwischen den Dünen hervorschauen. Doch die Tatsache, dass ich es nicht genau weiß, schlägt mich in ihren Bann, und oft ertappe ich mich dabei, wie ich die leere Stelle auf dem Bild anstarre.
    Vielleicht hätte er noch eine Figur hinzugefügt. Oder einen Handtuchflecken am Strand … Ich sehe mir gerne das Loch im Gemälde an und stelle mir vor, wie er es gefüllt hätte. Sogar ein Farbtropfen ist auf der Leinwand an der unvollendeten Stelle zu sehen. Dieser nachlässige Tropfen gibt mir das Gefühl, dass Simon noch da ist und weiter an dem Bild arbeitet. Als käme er jeden Augenblick zurück und würde den kleinen Farbpunkt wegwischen.
    Manchmal sehe ich nur die beiden Knie an, die das Mädchen in den Wellen einrahmen, und lächle dabei. Ich stelle mir vor, wie Simon mich halb verborgen hinter einer Düne beobachtet hat. Dieses ist etwas Besonderes. Ich habe schon damit angefangen, bevor wir uns kennengelernt haben. Er hat mich bei Tag gemalt. Er war schon die ganze Zeit über dagewesen.
    »Du bist so still«, bemerkt Mom sanft, und ich kehre in die Gegenwart zurück.
    »Ich genieße nur die Aussicht.« Ich möchte nicht, dass meine Mutter denkt, ich sei traurig, auch wenn ich es bin. Die Lichtverhältnisse verändern sich, und wenn ich immer weiter in diese Richtung ginge,
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